0720 - Zwei Verdammte aus Aibon
war zwar dicht, aber nicht zu dicht. Das meiste Laub hing wie ein gewaltiges Farbenspektrum an den Bäumen. Was mittlerweile abgefallen war, bedeckte den Boden als bunter Teppich.
Über dem Wald stand die Sonne. Es gab genügend Lücken, die ihre Strahlen hindurchließen, so bildete sich auf dem Waldboden ein Muster aus hellen und dunklen Flecken, was wie ein von Künstlerhand geschaffener Teppich aussah.
Es gefiel ihr. Mit jedem Schritt, den Jessica tiefer in den Wald eindrang, hatte sie das Gefühl, ein Teil von ihm selbst zu werden. Die Ruhe war so wundervoll. Sie horte das Singen der Vögel, aber das kam ihr so weit entfernt vor.
Wenn sich die Seele lösen und eins mit der Natur werden konnte, dann war das hier der Fall. Sie war so beschwingt, so anders als sonst, sie fühlte sich einfach wohl.
Bis sie einen Punkt erreichte, wo dieses Gefühl schlagartig aufhörte.
Es lag an dem Geruch!
Als wäre sie von einer Mauer gestoppt worden, so hart blieb Jessica Long stehen.
Sie atmete ein, sie schloß die Augen halb, sie konzentrierte sich, weil sie wissen wollte, ob sie sich getäuscht hatte oder nicht.
Nein, sie hatte sich nicht geirrt.
Es gab diesen Geruch.
Und er wehte ihr entgegen.
Er war wie eine Fahne, die nie abriß, die sie umwehte, und plötzlich mußte sie wieder an die Worte der alten Frau denken.
Nach Verfaultem roch es hier, als wäre dieser Wald ein Urwald, der Jahrhunderte sich selbst überlassen worden war, wo altes verfaultes, Gase bildete, um Neues über das Alte wachsen zu lassen.
Das alles paßte nicht in diese Umgebung.
Jessicas Gefühlswelt schaltete auf Alarm!
Was stimmte hier nicht?
Sie traute sich auch nicht, weiterzugehen. Stehend und dabei den Kopf leicht drehend, beobachtete sie die Umgebung. Lauerte jemand im Dickicht? Wurde sie aus dem Unterholz beobachtet? So wie sie schon einmal das Gefühl gehabt hatte?
Zu sehen war nichts, aber darauf wollte sich Jessica Long nicht verlassen.
Irgend etwas paßte nicht in diese herrliche Umgebung. Hier lauerte etwas, vor dem sie sich fürchtete.
Sie schaute nach vorn.
Die Künstlerin hielt sich an einer Spalte auf, wo der Wald nicht mehr so dicht war. Sie schaute in die Lücken zwischen den Bäumen hinein, und ihr fiel auch das dichte Laub auf, das den Boden wie ein großer Teppich bedeckte. Nicht nur Laub von diesem Jahr, es war auch altes darunter, und es sah aus, als wäre es mehrmals durchgefegt und aufgelockert worden.
War das natürlich? Hatte die reine Natur für diese Veränderung gesorgt? Oder hatten Menschen ihre Hand im Spiel gehabt?
Diese Fragen beschäftigten Jessica Long sehr. War sie bisher ruhig und ausgeglichen gewesen, so fühlte sie sich plötzlich nervös und unter Druck gesetzt. Sie verglich den Anblick des Untergrunds mit den Aussagen, die sie gehört hatte, dabei gelang es ihr nicht, eine Verbindung zu finden.
Die Natur war gestört, wie auch immer, das hier paßte einfach nicht. Es war - wie Jessica Long feststellen mußte, eine Quelle der Gefahr. Und darüber erschrak sie.
Ihr Hals war trocken geworden. Die Luft kam ihr rauh vor, nicht mehr so seidig.
Sollte sie umkehren?
Ihr Gefühl sagte ja, der Verstand nicht. Jessica war den Weg nun einmal gegangen, sie wollte dicht vor dem Ziel nicht mehr stoppen und sich ausruhen.
Sie hatte das Gefühl, Säure in den Augen zu haben. So sehr brannten sie.
Jessica schaute sich um.
Die Blicke glitten über den aufgewühlten Laubhaufen hinweg, sie suchten nach irgendwelchen Fallen, nach Feinden, die auf sie lauerten. Es war nichts zu entdecken.
Nur der Geruch blieb…
Sie empfand ihn jetzt als so störend, daß sie ihn schon nicht mehr atmen wollte und nur durch die Nase Luft holte. Ihrer Meinung nach hatte er sich in den vergangen Sekunden aktiviert.
Fäulnis, verdorbenes Fleisch, blauschwarzes Schimmern, von einem Heer von Fliegen bedeckt.
All diese Vergleiche kamen ihr bei dem Geruch in den Sinn. Über ihren Rücken rann ein Schauer, der sogar die Beine erfaßte. Selbst auf der Zunge lag der faulige Geschmack.
Nein, so roch auch altes Laub nicht.
Jessica ging weiter. Sie selbst hatte sich nicht den Befehl gegeben, die Schritte zu setzen, es geschah rein automatisch, sie wollte einfach nicht kneifen. So etwas paßte nicht zu ihr.
Unter ihren Füßen raschelte das Laub. Es knisterte, es brach ein, es wurde von den Kuppen der Schuhe in die Höhe geschleudert, es war feucht und trocken zugleich.
Um ihre Mundwinkel zuckte es, weil sie das Gefühl hatte, von
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