Eisblume
Dienstag
Schlechte Nachrichten haben die unangenehme Eigenschaft, zumeist völlig unerwartet einzutreffen. Sie tauchen auf aus dem Nichts. Treffen einen unvorbereitet. Kommen zu einem Zeitpunkt, der nie der richtige ist.
Normalerweise war er derjenige, der die schlechten Nachrichten überbrachte, an andere, Dritte, an Menschen, die er in der Regel nicht kannte.
Dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte es ihn getroffen, und es ließ ihn zurück. Ratlos. Hilflos. Ihn, Kriminalhauptkommissar Andreas Brander, vierundvierzig Jahre und seit mehr als zwanzig Jahren im Dienst.
Hatte er gedacht, nur weil er auf der einen Seite des Gesetzes stand, könne die andere nicht in sein Leben treten? Er stand am Fenster, starrte aus der dunklen Küche hinaus auf die Straße. Schneeflocken trieben in der Finsternis durch die Luft, wirbelten durcheinander, schwebten lautlos zur Erde. Es war kalt.
Statt zurück ins Bett zu gehen, ging Brander ins Wohnzimmer, nahm den Ballechin und ein Glas aus dem Regal. Es geschah automatisch, ohne sein Zutun. Er schaltete die kleine Stehlampe auf der Anrichte an und setzte sich auf das Sofa. Sein Kopf fühlte sich seltsam leer an. Nein, nicht leer, eher traurig. Ja, traurig, das traf es besser. Gedankenfragmente tauchten auf und verschwanden. Fragen blieben unbeantwortet. Traurig und ratlos. Das Gefühl, etwas übersehen zu haben, etwas nicht bemerkt zu haben. Auf jeden Fall, nicht zu verstehen, warum er nicht wenigstens etwas geahnt hatte. Leben. Sterben. Zwei Zustände, so gegensätzlich wie Licht und Dunkel. Hineingleiten in den Tod, sanft, vorbereitet sein. Aber nicht so plötzlich. So unerwartet. Nicht so. Er hatte genug Gewalt gesehen. Vielleicht schon zu viel.
Er nahm die Flasche aus der blauen Schmuckdose. »For the UK Market« , stand auf einem Aufkleber. Daniel hatte ihm die Flasche geschenkt. Er war beruflich in Schottland gewesen, und die Besichtigung der Edradour-Distillery hatte zu einem Ausflug mit den Kollegen gehört. Edradour galt als die kleinste Destillerie Schottlands. Brander kannte die Whisky-Brennerei. Weiße Häuschen mit roten Toren. Vor vier Jahren war er dort zum ersten Mal gewesen. Zum zehnten Jahrestag seiner Ehe hatte er mit Cecilia eine Tour durch die schottischen Highlands gemacht. So klein die Destillerie auch war, die Vielfalt an Whiskys war enorm. Sie hatten sechs verschiedene Sorten probiert und waren völlig betrunken im strömenden Regen die schmale Straße nach Pitlochry zurück ins Hotel gewandert. Sie hatten die nassen Kleider ausgezogen und unter der Bettdecke ihre nackten Körper aneinandergekuschelt, sich aneinander gewärmt. Und sie hatten sich geliebt.
Den Ballechin hatte er damals nicht probiert. Zumindest konnte er sich nicht an diesen Whisky erinnern – und wenn er ihn schon einmal getrunken hätte, dann hätte er ihn nicht vergessen. Vielleicht gab es ihn damals noch nicht. Es war ein starker Whisky mit einer für die Region untypischen rauchigen Note. Er hatte nicht die Rauchigkeit eines Laphroaig oder eines Talisker, die nach Asche und Torf schmeckten. Der Ballechin erinnerte ihn an eine Hütte, in der Aale geräuchert wurden, vermischt mit der süßen Note einer Sherryfass-Lagerung. Außergewöhnlich und vielschichtig. Der richtige Whisky, um an nichts anderes mehr zu denken. Brander öffnete die Flasche, schloss einen Moment lang die Augen, als er das herb-rauchige Aroma roch. Dann goss er die Flüssigkeit in sein Glas, hielt es vor sein Gesicht und betrachtete die Farbe im Schein der kleinen Stehlampe. Bernsteinfarben. Helles Bernstein. Er trank einen kleinen Schluck, wartete, dass sich das Aroma in Mund und Rachen ausbreitete. Es vermischte sich mit diesem seltsamen Gefühl ratloser Traurigkeit.
Eine Tür wurde geöffnet. Kurz darauf fiel ein Lichtstrahl vom Flur ins Wohnzimmer. Er hörte Schritte auf der Treppe. Sie war barfuß, meinte er am Geräusch ihrer Schritte zu erkennen. Sie sollte Hausschuhe tragen, die Fliesen sind eiskalt, ging es ihm durch den Kopf. Sie blieb an der Türschwelle zum Wohnzimmer stehen, die Arme fröstelnd um ihren Oberkörper geschlungen. Sie hatte keinen Morgenmantel übergezogen. Sie zog nie einen Morgenmantel an, und er fragte sich, warum er ihr eigentlich zum Geburtstag einen geschenkt hatte. Hatte sie sich nicht einen gewünscht?
»War das deine Dienststelle?«, fragte Cecilia. Sie hatte also das Läuten des Telefons gehört, dabei hatte er sich beeilt, das Gespräch entgegenzunehmen. Er hatte
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