0767 - Zeit der Wachsleichen
Wasser in ihn hinein.
Sie ging weiter.
Das Geäst vor ihr bog sich unter den Sturmböen. Wassermassen kippten ihr entgegen. Sie konnte nie direkt die Richtung bestimmen, weil sich der Wind laufend drehte.
Unter ihr schien der Erdboden weggeschwemmt zu werden. Sie lief wie durch einen Bach.
Dann war sie am Ziel. Über ihr breitete der Baum sein natürliches Dach aus, aber dem gelang es ebenfalls nicht, der Wassermassen Herr zu werden. Die Ströme bogen die Blätter, sie klatschten auf die Frau nieder, die nur Augen für den nassen Stamm hatte.
Für einen normalen Baumstamm.
Für einen leeren.
Der lebende Tote war verschwunden.
***
Wut und Zorn durchtosten sie. Wenn sie etwas haßte, dann war es dieses Reinlegen. Und sie fühlte sich reingelegt, was aber nicht so schlimm war wie der Eindruck, von den anderen Kräften reingelegt worden zu sein. So daß sie zugeben mußte, daß diese mächtiger waren als sie.
Es wurmte sie.
Gleichzeitig spürte sie die Furcht. War die Wachsleiche von allein verschwunden, oder hatte sie sich auf gewisse Helfer verlassen können. Sie durfte auf keinen Fall Mutter und Sohn Davies vergessen, denn auch sie bildeten eine Gefahr.
Unter dem Baum stand sie und drehte sich.
Da sah sie die Frau.
Sie hatte ganz in der Nähe gestanden und sich in einem für Sally nicht einsehbaren Platz mit dem Rücken gegen den Stamm gedrückt. Jetzt war sie zu sehen. Wie ein graues Gespenst stand sie im vom Himmel fließenden Wasser und starrte die Vincaro an.
»Wo ist er?« brüllte Sally.
Sie bekam als Antwort nur einen mächtigen Donnerschlag, der zugleich mit dem Blitz erfolgte. Das bleiche Licht erhellte die Szenerie, und das Gesicht der Eartha Davies war zu einem Lächeln verzogen. Sie fragte: »Wen meinen Sie?«
»Die lebende Leiche, die ihren Platz auf dem verdammten Friedhof hier verlassen hat.«
Eartha lachte nur.
Dieses Lachen traf Sally wie ein Schlag. Sie haßte es, von einer anderen Person ausgelacht zu werden. Da fühlte sie sich stets unterprivilegiert. Schon in ihrer Kindheit war sie zu oft ausgelacht worden, da hatte sich einiges aufgestaut. In dieser Lage, umgeben von einem mächtigen Gewitter und einem gewaltigen Sturm, da riß der Faden plötzlich, und sie erlebte so etwas wie einen Blackout, wobei sie sich trotzdem noch unter Kontrolle hatte, denn sie schoß gezielt.
Eartha schrie.
Die Kugel war ihr in den Oberschenkel gedrungen. Sie mußte den Eindruck gehabt haben, von einem glühenden Eisenbrocken getroffen worden zu sein, denn es war ihr nicht mehr möglich, sich auf den Beinen zu halten.
Der Einschlag riß sie herum und gleichzeitig um. Sie schleuderte ihre Arme in die Höhe, suchte Halt, leider vergeblich.
Schwer und bäuchlings fiel sie zu Boden, blieb liegen, umspielt von den rauschenden Wasserbächen.
Blut quoll aus der fast handgroßen Wunde.
»Wo ist er?«
Die Vincaro kannte kein Pardon. Sie fühlte sich plötzlich wieder in »Stimmung«. Ein Adrenalinstoß hatte ihren Körper durchtost, sie war wieder das, mit dem sie ihr Geld verdiente.
Die Killerin!
Eartha wimmerte. Blitze huschten zur Erde. Das Gewitter hatte seinen Höhepunkt erreicht. Unter dem Baum spielte sich ein ständiger Wechsel aus Licht und Schatten ab. Sally konnte beobachten, wie sich die Frau schwerfällig auf die Seite drehte und dann trotz ihrer Verletzung versuchte, aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu kriechen.
»Du mußt sterben, Voodoo-Frau, das weißt du! Ich habe einen Auftrag. Aber es kommt auf dich an, ob du langsam sterben wirst oder schnell. Wenn du redest, mache ich es kurz. Wenn nicht, wirst du leiden. Also - noch einmal. Wo ist er?«
Eartha gab keine Antwort. Schmerzerfüllt preßte sie den Namen ihres Sohnes hervor.
»Der wird dir auch nicht helfen!«
Er half trotzdem.
Plötzlich war er da.
Sally hörte noch den Schrei über sich, wollte sich drehen, es war zu spät.
Im Baum hatte der Junge gehockt und war mit seinem gesamten Gewicht auf die Mörderin niedergefallen. Sally konnte nicht mehr auf den Beinen bleiben. Der Druck wuchtete sie zu Boden, sie prallte in den Matsch, und der Junge drosch ihr beide Fäuste gegen den nassen Kopf, so daß sie beinahe das Bewußtsein verloren hätte. Sie bekam nicht mit, wie sie zur Seite gerollt wurde. Dann riß ihr Mario die Waffe aus der Hand. »Die Kugel kriegst du!« brüllte er.
»Nein, nicht…!«
Eartha meldete sich. Trotz der irrsinnigen Schmerzen hatte sie es geschafft und sich hingesetzt.
Beide Hände hielt sie
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