9 - Die Wiederkehr: Thriller
PROLOG
Dienstag, 12. September 2006
An seinem ersten Schultag verließ Leo mit gesenktem Blick das Klassenzimmer. Umgeben von kreischender, ausgelassener Heiterkeit trieb er im Strom seiner Mitschüler nach draußen und näherte sich, immer einige Schritte hinter seinen Klassenkameraden, der Hauptstraße. Die Septembersonne brannte so heiß auf den Asphalt, dass sich überall auf der Straße imaginäre Pfützen bildeten. Ein Zebrastreifen führte direkt zu dem Laden des Amerikaners, der für die Schulkinder am Nachmittag zum gelobten Land süßer Zerstreuung wurde. Dem Open . Eigentlich hieß der Tankstellenshop anders, doch das Neonschild über der Tür, das nach Einbruch der Dunkelheit violett und gelb leuchtete, hatte ihm letztlich seinen Namen gegeben. Manche glaubten zu wissen, Señor Palmer, dem der Laden gehörte, habe das Schild aus Amerika mitgebracht.
Als die Kinderschar am Straßenrand anhielt, blieb auch Leo stehen. Ohne den Kopf zu heben, sah er nach oben. Die Fußgängerampel stand auf Rot.
»Seht ihr die Narbe hier?«, rief ein Schüler und zeigte auf sein Kinn. »Die musste mit vier Stichen genäht werden.«
Er plusterte sich auf und spannte den Bizeps an.
»Darum nennen mich alle Schramme.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Schramme empfing die Bewunderung mit erhobenen Armen. Über ihm schaltete die Ampel auf Grün.
»Alle Mann ins Open!«, schrie er.
Der soeben gewählte Anführer spazierte an der Spitze seiner neuen Kameraden über die Straße. Für die Klasse, die Alma Blanco gerade erst unter ihre Fittiche genommen hatte, war es die erste Pilgerschaft ins Open, die zum täglichen Ritual werden sollte. Die Kinder liefen Schramme eifrig hinterher. Ein Junge packte ihn an der Schulter. »Ich bin Edgar.« Trotz seiner gerade einmal sechs Jahre schien er genau zu wissen, an wen er sich halten musste. Zwei Mädchen sahen sich fragend an, unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Ängstlich nahmen sie sich an den Händen. Dann folgten sie den anderen über die Straße.
Leo bemerkte, dass sich die Gruppe um ihn herum auflöste.
Er spürte auch den Druck seiner Füße gegen den Asphalt. Sein Oberkörper neigte sich leicht nach vorn, so als wollte er jeden Moment losgehen, doch die Zehen krallten sich in den Boden. Er war wie festgewurzelt. Während der Rumpf wieder in die Senkrechte zurückwippte, zweifelte Leo ein letztes Mal, ob er seiner Mutter gehorchen oder doch lieber die Straße überqueren und mit seinen neuen Klassenkameraden ins Open gehen sollte. Noch am Morgen hatte seine Mutter ihm eingeschärft, genau hier auf ihn zu warten, bevor sie ihm den ersten wichtigen Abschiedskuss im Leben eines Kindes gegeben hatte. Er schielte noch einmal verstohlen zu der Schülerschar, die jetzt geschlossen auf die andere Straßenseite hinüberging.
Leos zweifelte nur ein paar Sekunden.
Aber diese Sekunden sollten entscheidend sein.
Der Junge, der Schramme an der Schulter gepackt hatte, blickte zurück auf seine Gefolgschaft, die er sich mit einer einfachen Geste untertan gemacht hatte, und lächelte zufrieden. Doch dann fiel sein Blick auf Leo, der reglos und mit gesenktem Haupt auf der anderen Straßenseite verharrte. Er klopfte seinem Anführer auf die Schulter. Als Schramme sah, worum es ging, lief er wieder zurück über die Straße auf Leo zu. Die anderen Kinder kehrten ebenfalls um und versammelten sich im Kreis um die beiden.
»Was ist? Bist du taub oder was?«, fragte er.
Leo antwortete nicht. Er starrte nur weiter vor sich auf den Boden.
»He, ich rede mit dir«, sagte Schramme. »Bist du taub?«
Leo schüttelte den Kopf. Dann erwiderte er:
»Wenn ich taub wäre, könnte ich dir ja gar nicht antworten, oder?«
Die anderen Kinder begannen zu tuscheln. Schramme hob den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Aha, der Klugscheißer der Klasse«, sagte er. »Darum hast du wahrscheinlich auch dieses komische Pflaster auf dem Auge, was?«
»Das ist wegen meinem ›trägen Auge‹«, versuchte Leo sich zu verteidigen. »In einem Monat kommt es ab.«
»Das ist wegen meinem ›trägen Auge‹«, äffte Schramme ihn mit Fistelstimme nach. »Willst du deshalb nicht mit in den Laden kommen, weil du nicht gut siehst?«
Leo schüttelte wieder den Kopf.
»Na, dann weiß ich schon, was mit dir los ist.« Schramme machte eine bedeutungsvolle Pause. Er wartete kurz und sagte dann: »Du hast Angst, ins Open zu gehen. Du hast Angst, du könntest eine Kugel abkriegen.«
Das Getuschel verstummte.
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