0779 - Der Nebelwolf
zittern, als wären monströse Geschöpfe dabei, sich unter der Erde zu bewegen, um ihr Gefängnis irgendwann verlassen zu können.
Der wolkenbedeckte Himmel vermischte sich mit den aus dem Sumpf steigenden Schwaden. Die Welt wurde zu einer grauen Waschküche. Nur war es noch nicht so schlimm geworden, wie ich es aus manch Londoner Tagen kannte, und ich hoffte auch, dass sich der Dunst nicht so stark verdichten würde, denn dann hatte unser Ausflug keinen Sinn gehabt.
Noch einmal blieb Hoss Ivory stehen. Er befeuchtete mit der Zunge seinen Zeigefinger und streckte ihn in die Luft, um die Windrichtung zu prüfen. Ich war neben ihm stehen geblieben und entdeckte die Zufriedenheit auf seinem Gesicht.
»Ja, das ist gut«, sagte er.
»Was ist gut?«
»Dass der Wind aus Westen kommt. Aus Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass er am Nachmittag zunehmen wird.«
»Wie schön. Und was bedeutet das für uns?«
»Na, ganz einfach, John. Der Nebel wird sich nicht verdichten. Der Wind treibt die Schwaden weg. Einige werden sich immer halten können, besonders an bestimmten Plätzen, aber wir brauchen nicht mit einer dicken Waschküche zu rechnen.«
»Das ist doch schon was.«
»Finde ich auch.« Er schlug mir auf die Schultern. »Auf denn zum Hügel! Die letzte Strecke ist immer die beste.«
»Und dort wartet dann der Weihnachtsmann – oder?«
»So ähnlich«, sagte er und grinste. Er schaute mich aus seinen grauen Augen an.
Wie schon erwähnt, Ivory war ein wuchtiger Mann mit einem großen Kopf und Gesichtszügen, die wie geschnitzt wirkten, gleichzeitig aber auch weich und fleischig waren. Seine Nase erinnerte mich immer an die einer ägyptischen Statue, so extrem war sie geformt. Die Augenbrauen waren gebogen wie Brücken. So musste man aussehen, um in dieser Landschaft zurechtzukommen.
»Irgendwie habe ich den Eindruck, John, dass Sie dies alles hier nicht so richtig ernst nehmen. Oder täusche ich mich?«
»Sie täuschen sich.«
»Glaube ich nicht.«
»Warum?«
Er schob die rechte Augenbraue hoch. »Sie sind Polizist, John. Und Polizisten sind Menschen, die Beweise brauchen. Ist das nicht auch bei Ihnen so?«
»Doch.«
»Ich würde ja auch so denken wie Sie. Aber die Beweise, die werde ich Ihnen liefern.«
»Darauf warte ich.«
»Keine Sorge.« Er drehte sich abrupt um und ging weiter.
Nachdenklich stiefelte ich hinter ihm her. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, als wären zahlreiche Hände da, die mich festhalten wollten. Es schmatzte und gurgelte um meine Füße herum. Die Kraft, die auf mich einwirkte, war enorm.
Das änderte sich, als ich die nassen Querbohlen vor mir schimmern sah. Auch auf ihnen klebten die Gräser wie faulige Finger. Sie und die Blätter machten den Bohlenweg gefährlich glatt.
Zum Glück hatten wir ihn bald hinter uns. Das Gelände stieg bereits leicht an. Natürlich dachte ich über den Grund nach, weshalb mich Ivor geholt hatte. Er hatte von einem Friedhof gesprochen, von Gräbern und einer schrecklichen Düsternis, von einer alten Templer-Legende, vom Teufel und von einigen Dingen mehr. Das alles kam mir vor, als wäre es in einen gewaltigen Mixer getan worden, sodass eine Soße entstanden war, deren Zutaten nicht mehr zu erkennen waren.
Und dann hatte er noch etwas gesagt.
Irgendwann in der letzten Zeit, besonders am Abend und in der Nacht, waren unheimliche Schreie über das Moor gegellt. Zuerst hatte man an Menschen gedacht, die sich in einer schrecklichen Gefahr befanden, das traf den Punkt aber nicht.
Die Schreie waren keinesfalls von Menschen ausgestoßen worden, sondern von irgendwelchen Bestien, und wer genauer hinhörte, hatte darin die Heullaute von Wölfen erkannt.
Wölfe im Sumpf…
Nebelwölfe!
Dieser Begriff war gefallen, und jetzt wartete ich praktisch darauf, diese Bestien zu sehen. Ich wusste nur nicht, in welch einem Zusammenhang sie mit den anderen Dingen standen, die man mir gesagt hatte. Das war mir einfach alles zu schwammig.
Dann sah ich den Hügel, der größer war, als ich gedacht hatte, und sein Bewuchs bestand aus verkrüppelten Bäumen, Buschwerk und natürlich dem hohen Gras, das allerdings eine schmutzige braune Farbe angenommen hatte.
Ivory drehte sich noch einmal um. »Ein herrliches Plätzchen, ein wunderbarer Flecken Erde. Ideal für Liebespaare.« Er lachte über seine eigene Bemerkung.
Ich war nicht davon überzeugt, dass wir hier ein Schäferstündchen erleben würden. Ich legte die letzten Yards zurück, wobei sich einige
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