082 - Die Zeit der Zwerge
anderen Umständen wäre es ihr nicht schwergefallen, irgendwelche dämonische Einflüsse zu erkennen. Aber Tirso und der Hermaphrodit Phillip - übrigens auch der Steinzeitmensch Cro Magnon - hatten eine so starke Ausstrahlung, daß diese alles andere überlagerte.
Coco zuckte zusammen, da sie vor sich ein Geräusch vernahm, Schritte, vorsichtige Schritte, als wenn sich jemand unbemerkt davonschleichen wollte; und dann entdeckte sie die kaum eineinhalb Meter große Gestalt, die geschwind in einem Seitengang verschwand.
„Tirso!" rief Coco und begann zu laufen. „Bleib sofort stehen! Glaubst du, ich habe dich nicht gesehen?"
Als sie den Quergang erreichte, kam ihr dort ein Skelett entgegen, das schaurig mit den Knochen klapperte. In einiger Entfernung stand Tirso und hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Habe ich dich erschreckt, Coco?" fragte er spitzbübisch, aber in seinen Augen funkelte kein Schalk.
Das Skelett fiel klappernd in sich zusammen.
„Tirso, was hast du hier unten zu suchen?" fragte Coco streng. „Du weißt, daß man dir verboten hat, dich allein in den unterirdischen Gängen herumzutreiben."
Tirso senkte den Kopf.
„Jetzt bist du sicher böse auf mich, weil ich dich erschreckt habe", sagte er eingeschüchtert. „Dabei habe ich geglaubt, daß du Spaß verstehen würdest."
„Der Spaß hört sich auf, wenn du anfängst, Dämonenbanner zu entfernen, die unser Leben schützen sollen."
Es war ein Schuß ins Blaue. Coco sah, wie Tirso zusammenzuckte.
„Aber damit habe ich nichts zu tun", beteuerte der Zyklopenjunge, ohne sie dabei anzusehen. „Ehrlich, ich wollte dir nur Angst einjagen. Als ich sah, daß du nach unten gingst, bin ich dir nachgeschlichen. Und dann sah ich das Skelett und - und da konnte ich nicht anders …"
„Du solltest inzwischen schon wissen, daß du eine ehemalige Hexe mit solchen Geisterbahneffekten nicht erschrecken kannst", sagte Coco versöhnlicher.
Sie mußte sich ein Schmunzeln verkneifen, als sie sich an letzte Nacht erinnerte. Da hatte Tirso mit seinem Blick ihr Bettlaken bewegt, um sie glauben zu lassen, daß es ein Gespenst ist. Er hatte sich zu einem richtigen Lausbuben gemausert. Coco war sicher, daß er den Schock längst schon überwunden hatte.
Tirsos Gesicht erhellte sich. „Dann bist du mir nicht mehr böse?"
„Nein. Und jetzt mach, daß du nach oben kommst!"
Tirso lief eilig davon und verschwand über eine Wendeltreppe nach oben.
Coco setzte ihren Weg zum Verlies fort. Noch bevor sie zu dem Gewölbe mit den niedrigen Eisentüren kam, hinter denen früher die Opfer der Quintanos geschmachtet hatten, hörte sie die unartikulierten Schreie, denen ein Krachen und Poltern folgte.
Cro Magnon tobte wieder einmal in seiner Zelle. Manchmal benahm er sich tagelang völlig normal, und man konnte sogar vernünftig mit ihm reden; aber dann brachen die Urtriebe wieder in ihm durch, und er gebärdete sich wie ein Rasender. So eine Phase machte er gerade durch.
Coco ging zu seiner Zelle und öffnete die Klappe. Sie sah in einen großen Raum, der recht gemütlich eingerichtet war und auch sanitäre Anlagen besaß. Jetzt sah es darin allerdings wie nach einer Schlacht aus. Cro Magnon hatte alles kurz und klein geschlagen, was nicht niet- und nagelfest oder aus Eisen war.
„Cro", sagte Coco, „was ist nur wieder mit dir los?"
Er wirbelte herum, als er ihre Stimme hörte.
Cro hatte sich das Gewand vom Leib gerissen und stand völlig nackt da. In seiner Pose wirkte er wie ein antiker Rachegott. Die Muskeln seiner angespannten Arme und Beine zuckten, der breite Brustkorb hob und senkte sich, die klugen Augen in dem breiten, kantigen, aber männlich schönen Gesicht funkelten sie zornig an.
„Weib, come in, und ich zeig dir, wer ich bin!" schrie er ihr entgegen.
Cro Magnon wurde von dem Linguist Virgil Fenton, der auch Tirsos Lehrer war, Deutsch gelehrt - und er lernte schnell. Er schnappte jedes Wort auf, das in seiner Gegenwart fiel, und erweiterte so seinen Sprachschatz. Da die Insassen von Basajaun jedoch verschiedenen Nationalitäten angehörten und sich manchmal ihrer Muttersprache bedienten, schnappte Cro Magnon Worte der verschiedensten Sprachen auf und vermischte sie. Manchmal wandte er die Worte falsch an, so daß ein furchtbares Kauderwelsch entstand.
„I'm a man!" Er blähte den Brustkorb auf und stellte sich in Pose. „Du Weib, wir machen Lamour." Coco mußte lachen.
„Zugegeben, du bist ein strammes Mannsbild", sagte sie schnell, als sie
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