085 - Von den Morlos gehetzt
einstimmig als schemenhafte Gestalt einer hageren Frau im langen Kleid erkannt wurde.
„Verräter!“ vernahm man eine kaum hörbare Frauenstimme, woraufhin sich die Lippen des Doktors zu einem Schrei öffneten und sein Kopf wieder verschwand. Der Schrei war allerdings nicht mehr zu hören. Die Leute sagen, er habe das Gesicht zu einer grauenvollen Grimasse verzerrt, die furchtbares Entsetzen ausdrückte.
Laura schwieg eine Weile, nippte am Coca-Cola und sah mich über das Glas hinweg forschend an.
„Nun, was meinst du zu der Geschichte?“
„Nicht übel“, erwiderte ich. „aber warum erzählst du sie ausgerechnet mir?“
„Du hast neulich von dem Buch gesprochen, das du im Augenblick für Cullingham schreibst. Das ist doch dein Thema, Rob!“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, Laura. Ich glaube, ich hab’s dir neulich ziemlich genau erklärt: Ich schreibe ein Sachbuch über vergangene Kulturen und den Jenseitsglauben dieser Völker. Da hat deine Mrs. Tichles ja nun wirklich nichts drin verloren.“
„Sie nicht, aber das, was ich im Gerichtsarchiv aufgestöbert habe. Und nun halt dich fest, alter Junge: Noch vor rund neunzig Jahren gab es eine Kultur, von der die gesamte Menschheit nichts weiß, weil man von jeher ihre Existenz verleugnete und verschwieg. Eine Kultur, Rob, die gleichzeitig das Jenseits ist. Oder wenigstens so ähnlich.“
Ich lachte schallend.
„Du meinst wohl das, was wir Jenseits nennen? Nicht sehr neu, Laura. Dieser Gedanke ist so alt wie die Welt.“
„Das meine ich nicht“, antwortete sie, und nun begann ihre Stimme zu schwanken: „Ich habe etwas gefunden, das darauf hindeutet, daß es eine Art menschliches Wesen gibt oder gegeben hat, das tief unter der Erde lebt. Das, was wir Jenseits nennen, haben diese Existenzen zu ihrem Reich unter dieser Erde gemacht, auf der ich gerade meine Coke trinke.“
„Aha“, antwortete ich, nun vollkommen davon überzeugt, daß Laura zu lange in der Sonne gelegen hatte. „Und ich vermute, diese Wesen aus dem unterirdischen Totenreich sind kleine, grüne Männchen mit riesigen Hakennasen im Gesicht.“
Ihr vernichtender Blick hätte einen ganzen Insektenschwarm ausrotten können. „Nein“, sagte sie betont. „sie haben überhaupt keine Nasen. Nur zwei kleine Löcher. Da nämlich, wo die Nase sein sollte. Die können sie nämlich gar nicht besitzen, weil sie keinen einzigen Knochen im Leib aufweisen. Nur Fleisch und Haut, Rob! Kleine, fette und gedrungene Wesen, hast du kapiert?“
„Klar“, sagte ich und lachte. „Und anstelle von Blut fließt reines Petroleum in ihren Adern.“
Der Morgen kam heran, grau, verhangen, wie fast jeder Herbstmorgen in London. Dr. Julius Warren erhob sich aus dem schweren Sessel, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Sein Gesicht war eingefallen und wies die Spuren einer unruhigen Nacht auf.
Es ist also soweit, dachte er und lächelte mühsam sein verschwommenes Spiegelbild in den Scheiben an. Man hat die beiden überrascht und festgenommen. Es würde jetzt nur noch eine Frage der Zeit sein, wann sie den Beamten seinen Namen nannten. Vielleicht waren sie schon unterwegs, ihn zu verhaften, einzukerkern, vor Gericht zu bringen.
Leugnen hatte keinen Zweck. Nach der Verkündung des Urteils würde er ein kurzes, zorniges Schlußwort sprechen, wie es schon so viele andere vor ihm getan hatten. Als Opfer der Wissenschaft trat er dann den letzten Gang an. Die bornierten Mitmenschen, die sich die Chance, länger und gesünder zu leben, entgehen ließen, hatten ihn in den Tod getrieben.
Er hörte Mrs. Adams unten in der Küche hantieren. Es schlug neun, und er wartete immer noch.
Gegen elf sah Mrs. Adams besorgt nach ihm, weil er nicht, wie üblich, um kurz nach neun zum Frühstück erschienen war. Widerstrebend folgte er ihr ins Eßzimmer, wo sie für ihn gedeckt hatte. Später stand er wieder in seinem Zimmer, beobachtete die Straße in Erwartung seines Henkers.
Aber sie kamen nicht. Dieses Mal noch nicht.
Als er die Gardenstreet erreichte, war er vom Regen bis auf die Haut durchnäßt. Der alte Geizkragen, von dem Harry öfters erzählt hatte, öffnete die Tür einen Spalt breit und sah ihm wie eine müde Eule entgegen.
„Ich möchte gern Harry sprechen.“
Er war nervös, aufgekratzt. Vielleicht warteten sie drinnen auf ihn. Ein besseres Geständnis konnte er ihnen ja nicht bringen, als selbst bei einem Leichendieb zu erscheinen.
„Meinen Sie den Mediziner oder den, der mal
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