0871 - Der silberne Tod
stellen, dann kippte er zur anderen Seite hin weg, und noch in der Bewegung fielen ihm die Augen zu. Roger Crisson schlief ein.
Ruhe, endlich Ruhe. Keine Glockenklänge mehr, keine schlimmen Gedanken, die sich mit den Verfehlungen der Vergangenheit beschäftigten. Sich einfach nur dem Schlaf hingeben, mit sich selbst allein sein, sich um nichts mehr kümmern zu müssen, zumindest nicht in den folgenden Stunden.
Diese Gedanken waren es, die den Pfarrer in den tiefen Schlaf begleiteten.
Einfach ins Loch fallen, ins Loch…
Der Körper des Mannes nickte noch einige Male. Reflexe seiner Muskeln. Dann waren nur seine tiefen Atemzüge zu hören, die als Schnaufen die Stille durchdrangen.
Und doch wurde er wach. Er ruckte in die Höhe, dabei drang ein leiser Schrei aus seinem Mund.
Roger Crisson bewegte den Kopf, die Hände tasteten zu beiden Seiten des Körpers, bis sie einen Halt an den Lehnen des Sessels gefunden hatten. Er spürte das Leder unter der Haut. Seine Finger drückten hinein.
Wo bin ich?
Die Frage schoß ihm nur kurz durch den Kopf. Er sah, daß er im Sessel seines Arbeitszimmers saß.
Crisson stöhnte leise und strich mit der rechten Hand durch sein Gesicht. Wie weicher Lack lag der kalte Schweiß auf seinem Gesicht. Sein Mund bewegte sich, die Lippen waren ebenso trocken wie sein Hals. Er mußte sich räuspern, um überhaupt einen Ton hervorzubringen. Dann stöhnte er wieder auf, schüttelte den Kopf, weil er eine gewisse Benommenheit vertreiben wollte.
Er blickte sich um.
Es war dunkel im Zimmer. Draußen lauerte die Finsternis. Seine Uhr hatte Leuchtziffern. Er sah, daß Mitternacht schon vorbei war. Ein neuer Tag war angebrochen, gerade acht Minuten alt, und Crisson fragte sich, was er bringen würde.
Die Frage an die Zukunft erinnerte ihn gleichzeitig wieder an die Vergangenheit. Urplötzlich mußte er sich wieder mit dem letzten Abend auseinandersetzen. Klar und deutlich erschienen die Bilder. Er sah sich am Fenster stehen, die Angst kehrte zurück, und er hörte auch den Widerhall der Glockenschläge, die etwas ankündigten, das für ihn sehr gefährlich werden konnte.
Plötzlich zitterte er.
Hilfe hatte ihm die kurze Schlafphase nicht gegeben. Zudem machte ihm der Alkohol zu schaffen.
Crisson fühlte sich matt, und in seinem Mund lag ein Geschmack, den er nicht beschreiben konnte.
So mußte Asche schmecken.
Die Nacht hatte auch vor seinem Arbeitszimmer nicht haltgemacht. Sie war hineingekrochen, hatte sich ausgebreitet, und obwohl nichts passiert war, klopfte Crissons Herz stärker.
Wieder stieg die Angst in ihm hoch. Ihn überkam beinahe schon das gleiche Gefühl wie beim Klang der Kirchenglocken, und wieder dachte er an seine Vergangenheit.
Er verfluchte sich dafür, aber er konnte es nicht ändern. Die Gedanken waren da, sie blieben es auch. Die Psyche hatte in diesen Augenblicken seine Ratio besiegt. Gespenster turnten durch seinen Kopf, und die Leere des Hauses wurde ihm überdeutlich bewußt.
Roger Crisson erhob sich. Nicht normal. Viel langsamer als sonst, auch zitternder. Er wußte, daß er einen unsteten Blick hatte, konnte daran aber nichts ändern. Es rollte auf ihn zu, das stand für ihn fest. Die Welt um ihn herum hatte sich äußerlich nicht verändert, wohl aber in seinem Innern.
Seine Schritte waren müde und torkelig, als er zum Fenster ging und nach draußen schaute.
Der Ort lag in tiefer Stille. Hier gingen die Menschen früh zu Bett und standen auch früh auf. Randale gab es nicht in der Nacht. Wenn übermütige Jugendliche mal auf den Putz hauten, taten sie es tagsüber und immer noch in Maßen. Es gab also keinen Grund, sich zu fürchten. Aber warum fürchtete er sich dann?
Die Angst bezog sich nur auf ihn allein. Er fühlte sich als Magnet, der sie anzog. Auf ihn kam sie zu. Er breitete unfreiwillig die Arme aus. Er würde sie umarmen, obwohl er es gar nicht wollte. Sie hatte sich einzig und allein auf ihn konzentriert, und sie kam ihm nicht einmal gestaltlos vor. Roger Crisson glaubte daran, daß er nicht mehr allein in seinem Haus war.
Er ging zur Tür, zerrte sie heftig auf, trat aber nicht über die Schwelle in den Flur hinein, er blieb stehen und nahm sich die Zeit, in die Dunkelheit zu lauschen.
Da war nichts.
Keine Tritte. Niemand, der durch das Haus schlich, um an ihn heranzukommen.
Stille…
Er hatte den Beweis und konnte ihn trotzdem nicht akzeptieren. Die Stille war nicht normal, jemand hatte es auf ihn abgesehen, davon ging er aus. Es gab
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