0871 - Der silberne Tod
ich…«
»Keine Ausreden mehr. Deine Zeit ist abgelaufen. Du hast der Verbindung ungeheuren Schaden zugefügt. Durch dich sind gute Männer gestorben. Du hast Wege geebnet, denn nur durch dich konnten es unsere Feinde schaffen, Lücken in unsere Reihen zu reißen. Dein Verrat wurde nie gesühnt. Heute aber ist der Tag gekommen.«
»Aber ich habe es doch bereut!« keuchte er. »Himmel, ich habe es bereut! Ich bin ein treuer Diener der Kirche gewesen. Ich habe mir nie danach etwas zuschulden kommen lassen.«
»Du hast mit dem Verrat gelebt.«
»Ja, das habe ich. Und ich habe auch gebüßt. Ich habe schrecklich darunter gelitten. Es war für mich einfach furchtbar.« Roger sprach mit zitternder Stimme, und die einzelnen Worte wurden immer wieder durch sein Keuchen unterbrochen. »Es war unmöglich, damit zurechtzukommen. Es ist so grauenhaft, ich…«
»Du wirst nicht mehr nachdenken müssen.«
Crisson hatte die Antwort verstanden. Er hatte sich auch auf das silbrige Knochengesicht des Skeletts konzentriert, er hatte die Worte gehört, aber er hatte nicht gesehen, wie sich der knöcherne Mund bewegte. Die Worte waren einfach aus der Kehle geströmt, einfach so…
Er jammerte.
Das silberne Skelett drückte die Waffe noch weiter vor. Idas Jammern des Mannes verstummte, als er den kalten Mündungsrand an seiner heißen Stirn spürte.
Kalt wie der Tod…
Der Knochenfinger krümmte sich. Den Anfang der Bewegung bekam Crisson noch mit, dann schloß er die Augen.
Er hörte auch den Knall.
Kurz nur, danach war es vorbei. Der Rächer hatte seine Aufgabe hundertprozentig erfüllt…
***
Die alte Bernadette gehörte zu den Frauen, die in ihrem Leben sehr oft in der Küche und in der Kirche gestanden hatten. Sie konnte sich kaum an einen Tag erinnern, an dem sie nicht das Gotteshaus besucht hatte, zumeist dann, wenn ihre Arbeit beendet war, und so gehörte sie zu den Menschen, die stets die tägliche Abendmesse besuchten und im Gebet wieder Kraft schöpften.
Fünf Kinder hatte sie großgezogen, keines lebte mehr in der Nähe. Der älteste Sohn war sogar nach Deutschland gegangen, um dort Arbeit in seinem Chemiewerk zu finden.
Die anderen vier lebten in der Nähe von Paris und Marseilles. Sie war wieder allein, und seit zwei Jahren ganz allein, denn da war ihr Mann gestorben.
Man hatte ihr den Inhalt des Lebens geraubt, denn trotz ihres Alters wollte sie noch aktiv sein. Sie besorgte sich auch Arbeit, sie ging den Familien helfen, die allein nicht zurechtkamen. Sie kochte, sie arbeitete für die Kinderreichen, und sie war dabei ihrem Grundsatz treu geblieben, jeden Tag in die Kirche zu gehen. So war es auch an diesem Abend gewesen. Ihr Stammplatz wurde immer freigehalten. In der dritten Bankreihe rechts außen. Dort hockte sie wie eine dunkle Statue, denn sie trug zumeist braune oder schwarze Kleidung.
Der hinter ihr liegende Tag war schwer gewesen. Sie hatte hart gearbeitet, und obwohl sie es nicht zugeben wollte, spürte sie doch die langen Stunden. Sie war kraftlos geworden, und sie mußte es auch auf ihr Alter schieben. Sie war keine junge Frau mehr, die voller Energie steckte, sie gehörte eben zum alten Eisen, ob ihr das nun paßte oder nicht. Aber der Besuch der Messe mußte einfach sein.
Sie erlebte die Stunde immer sehr intensiv. Die Zeit in der Kirche gab ihr etwas, denn diese sechzig Minuten waren ein Kraftquell, auf den sie am nächsten Tag wieder zurückgreifen konnte.
Die Messe war beendet. Die wenigen Besucher hatten die Kirche längst verlassen, nur Bernadette saß noch in der Bank, die Hände im Schoß gefaltet, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Es war kaum eine Bewegung in ihr, und in dieser Haltung erinnerte sie an eine Statue von Ernst Barlach. Es kümmerte sich niemand um sie, denn jeder wußte, daß gerade Bernadette stets länger in der Kirche blieb, um für ihren Mann, die Kinder und sich selbst zu beten.
Das alles war normal, aber es war nicht normal, daß Bernadette einschlief, so wie es an diesem Abend der Fall war.
Bernadette schlief tief und fest. Sie war förmlich in einen Schlaf hineingesackt.
Zeit verging.
Minuten addierten sich zu Stunden. In der Kirche war es dunkel. Es brannte nicht mal eine Kerze.
Nur das ewige Licht glühte wie ein rotes Auge in der schattigen Finsternis.
Dicke Mauern schirmten die Kirche vor der Außenwelt ab. In diesem Gebäude wurde es nie richtig warm. Eine gewisse Restkälte blieb immer zurück, und es war die Kälte, die sich in den
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