09 - Old Surehand III
leider meiner Feder nicht gestatten, mir eine solche Schicksalsgunst zu erweisen, und muß eingestehen, daß ich nichts, aber auch ganz und gar nichts fand. Doch hatte ich meine Schuldigkeit getan und begab mich also befriedigt nach der Stube, in welcher die andern alle jetzt wieder, sich über das Intermezzo unterhaltend, beisammensaßen.
Wenn ich sage ‚befriedigt‘, so hat das seinen guten Grund. Ich war, grad wie auf Fenners Farm, auch heut dem Tod wie durch ein Wunder entgangen. Die innere Stimme, welche mich bei unserer Ankunft hier gewarnt hatte, war ganz gewiß die Stimme meines Schutzengels gewesen. Ich hatte ihr nicht gefolgt und war dennoch von ihm gerettet worden, indem er im Augenblick der Gefahr meinen Blick nach dem betreffenden Fenster lenkte. Die Ähnlichkeit des heutigen Ereignisses mit dem auf Fenners Farm war sonderbar. Nun fehlte nur noch ein Überfall auf unsere Pferde oder gar auf uns selbst; dann würden die beiden Abende einander ganz leidlich kongruent!
Schüttelt vielleicht jemand lächelnd den Kopf darüber, daß ich von meinem Schutzengel rede? Lieber Zweifler, ich schmeichle mir ganz und gar nicht, dich zu meiner Ansicht, zu meinem Glauben zu bekehren, aber du magst sagen, was du willst, den Schutzengel disputierst du mir doch nicht hinweg. Ich bin sogar felsenfest überzeugt, daß ich nicht nur einen, sondern mehrere habe, ja daß es Menschen gibt, welche sich im Schutz sehr vieler solcher himmlischer Hüter befinden. Der Zar von Rußland, dessen Thron auf Dynamitsäulen steht, die Beherrscher von Reichen und Völkern, von deren Entschließungen das Wohl von Millionen Menschen abhängt, der Seekapitän, bei dem die kleinste Nachlässigkeit, die geringste falsche Berechnung den Untergang des Schiffes und aller seiner Bewohner herbeiführen kann, der Diplomat, welcher mit Nationen spielt, der Feldherr, welcher Armeen bewegt, der Arzt, dem das Leben oder der Tod seiner Patienten aus der Feder fließt, sie alle bedürfen zu ihrem Schutz, ihrer Beratung, ihrer Warnung viel, viel mehr der Engel, als zum Beispiel ein fetter Rentner, welcher keine andere Arbeit kennt und keinen andern Beruf zu haben scheint, als Coupons abzuschneiden. Mag man mich immerhin auslachen; ich habe den Mut, es ruhig hinzunehmen; aber indem ich hier an meinem Tisch sitze und diese Zeilen niederschreibe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Unsichtbaren mich umschweben und mir, schriftstellerisch ausgedrückt, die Feder in die Tinte tauchen. Und wenn, was sehr häufig der Fall ist, ein Leser, der in die Irre ging, durch eines meiner Bücher auf den richtigen Weg gewiesen wird, so kommt sein Schutzengel zu dem meinigen, und beide freuen sich über die glücklichen Erfolge ihres Einflusses, unter welchem ich schrieb und der andere las. Das sage ich nicht etwa in selbstgefälliger Überhebung, o nein! Wer da weiß, daß er sein Werk nur zum geringsten Teil sich selbst verdankt, der kann nicht anders als demütig und bescheiden sein, und ich trete mit dieser meiner Anschauung nur deshalb vor die Öffentlichkeit, weil in unserer materiellen Zeit, in unsrem ideals- und glaubenslosen fin de siècle nur selten jemand wagt, zu sagen, daß er mit diesem Leugnen und Verneinen nichts zu schaffen habe.
Wir tröstlich und beruhigend, wie ermunternd und anspornend ist es doch, zu wissen, daß Gottes Boten stetig um uns sind! Und welch große sittliche Macht liegt in diesem Glauben! Wer überzeugt ist, daß unsichtbare Wesen ihn umgeben, welche jeden seiner Gedanken kennen, jedes seiner Worte hören und alle seine Werke sehen, der wird sich gewiß hüten, soviel er kann, das Mißfallen dieser Gesandten des Richters aller Welt auf sich zu ziehen. Ich gebe diesen sogenannten, in Mißkredit geratenen Kinder-, Ammen- und Märchenglauben nicht für alle Schätze dieser Erde hin!
„Schutzengel? Lächerlich!“ sagte einst ein sehr gelehrter und weitgereister Herr zu mir, dessen Namen man in einigen Erdteilen kannte und auch heut noch kennt. „Haben Sie einen? Haben Sie ihn gesehen, ihn gehört, mit ihm gesprochen? Zeigen Sie ihn mir, dann will ich glauben, daß er existiert!“ Ein Jahr später traf ich ihn in Tirol. Nach der kurzen, herzlichen Begrüßung war sein erstes, wie mir schien, ganz unmotiviertes Wort: „Es gibt welche; ich weiß es jetzt; auch ich habe einen!“ – „Was?“ fragte ich erstaunt. – „Schutzengel meine ich. Sie besinnen sich wohl noch unsers letzten Gespräches?“ – Er war in den Bergen
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