Der Grüne Strahl
Jules Verne
Der Grüne Strahl
Mit 44 Illustrationen von Léon Benett
und 1 Karte
Titel der Erstausgabe:
Le Rayon vert (Paris 1882)
Nach zeitgenössischen Übersetzungen
überarbeitet von Günter Jürgensmeier
1. KAPITEL
Die Brüder Sam und Sib
»Bet!«
»Beth!«
»Bess!«
»Betsey!«
»Betty!«
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So lauteten die Namen, die unmittelbar hintereinander
aus dem prächtigen Salon von Helensburgh ertönten – eine
merkwürdige Gewohnheit der Brüder Sam und Sib, die Ver-
walterin ihres Landhauses herbeizurufen.
In diesem Augenblick verhallten diese familiären Abkür-
zungen des Namens Elisabeth aber ebenso wirkungslos, als
wenn seine Trägerin mit ihrem vollen Namen gerufen wor-
den wäre.
Dagegen erschien der Intendant Patridge, die schotti-
sche Mütze in der Hand, in der Salontür.
Patridge richtete seine Worte an zwei freundlich ausse-
hende Männer, die in der Nische des großen Fensters saßen,
das mit den drei buntglasigen Scheiben ein Stück über die
Hausfassade vorsprang.
»Die Herren haben nach Mrs. Bess gerufen«, sagte er;
»Mrs. Bess befindet sich aber nicht im Haus.«
»Wo ist sie denn, Patridge?«
»Sie begleitet Miss Campbell, die im Park spazieren-
geht.«
Auf ein von beiden Männern gegebenes Zeichen zog
sich Patridge würdevoll zurück.
Jene waren die Brüder Sam und Sib – oder nach eigent-
lichem Taufnamen Samuel und Sebastian –, die Oheime von
Miss Campbell. Schotten vom alten Schlag, Schotten aus ei-
nem altehrwürdigen Hochlandclan, zählten sie zusammen
120 Jahre, bei einem Altersunterschied von nur 15 Monaten
zwischen dem älteren Sam und dem jüngeren Sib.
Um mit wenigen Zügen diese Musterbilder von Ehren-
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haftigkeit, Wohlwollen und Aufopferungsfähigkeit zu skiz-
zieren, genügt wohl die Bemerkung, daß ihr ganzes Leben
einzig und allein ihrer Nichte geweiht gewesen war. Sie wa-
ren die Brüder ihrer Mutter, die, schon nach einjähriger
Ehe verwitwet, durch eine hitzige Krankheit frühzeitig da-
hingerafft wurde. Sam und Sib Melvill blieben also als die
einzigen natürlichen Beschützer der kleinen Waise zurück.
Übereinstimmend in ihrer Zärtlichkeit, lebten, dachten und
träumten sie nur für sie.
Um ihretwillen waren sie, ohne es eben zu bedauern, un-
verheiratet geblieben, zwei gutmütige Naturen, die hienie-
den keine andere Rolle als die eines Beschützers zu spielen
haben. Ist es nicht schon genug gesagt, wenn wir von ihnen
verraten, daß der Ältere gleichsam Vaterstelle, der Jüngere
dagegen mehr Mutterstelle bei dem Kind vertrat? So kam
es zuweilen vor, daß Miss Campbell sie dementsprechend
mit einem: »Guten Tag, Papa Sam! – Nun, wie geht’s, Mama
Sib?« begrüßte.
Mit wem hätte man sie passender vergleichen können,
diese beiden Onkel, als, abgesehen von geschäftlicher Er-
fahrung und Findigkeit, mit jenen zwei so guten, so über-
einstimmenden und einander zärtlich zugetanen, hochher-
zigen Kaufleuten, den Gebrüdern Cheeryble aus der City
von London, den beiden vollkommensten Geschöpfen, die
je der Phantasie Boz Dickens’ entsprungen sind? Es wäre
unmöglich gewesen, einen treffenderen Vergleich zu fin-
den, und wenn man den Verfasser beschuldigen könnte,
deren Typus dem bedeutenden Werk ›Nicolas Nickleby‹
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entlehnt zu haben, so würde niemand dieses Plagiat zu be-
dauern haben.
Sam und Sib Melvill, durch die Heiratung ihrer Schwester
verwandt mit einem Seitenzweig der alten Familie Camp-
bell, hatten einander niemals verlassen. Die gleiche Erzie-
hung hatte sie auch moralisch gleichmäßig geformt. Sie hat-
ten zusammen denselben Unterricht in derselben Schule
und ein und derselben Klasse genossen. Da sie stets über
alles dieselben Gedanken zutage förderten und die glei-
chen Ausdrücke dafür zu gebrauchen pflegten, konnte je-
der leicht einen angefangenen Satz des anderen vollenden,
wobei den Hauptpunkten auch dieselben Gesten erhöhten
Nachdruck verliehen. Mit einem Wort, diese beiden Wesen
bildeten eigentlich nur ein einziges, obgleich ihre persön-
liche Erscheinung einige Verschiedenheiten aufwies. Sam
war nämlich etwas größer als Sib, Sib etwas korpulenter als
Sam; ihr graues Haar hätten sie aber vertauschen können,
ohne den Charakter der grundehrlichen Gesichter zu ver-
ändern, denen der ganze Adel der Abkömmlinge des Clans
von Melvill aufgeprägt war.
Müssen wir besonders hinzufügen, daß sie bezüglich
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