0915 - Die Rückkehr des Schrecklichen
nicht jünger, altes Mädchen«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Jetzt kriegst du schon am helllichten Tag Halluzinationen. Wahrscheinlich waren die Ereignisse der letzten Wochen doch zu viel.«
Die Französin machte sich an den Abstieg. Auf der zweiten Zwischenplattform erstarrte sie plötzlich. Fast hätte sie es übersehen. Vor dem Eingang zu einer alten Rumpelkammer lag, bereits im Schatten, eine leuchtend gelbe Feder!
Nicole spürte erneut eisige Schauer auf ihrem Körper. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Duvals Fuß zuckte hoch. Mit einem Krachen schlug die Tür gegen die Wand. Staub wallte hoch, als die Französin in die Kammer sprang.
Erleichtert atmete sie auf, als sie den Raum leer fand. Oder? Ihre Blicke schweiften über die mächtigen, unverputzten Steinquader und über die Decke aus grob behauenen Holzbrettern. Wer einmal gegen Vampire und ähnliches Kroppzeug gekämpft hatte, wusste, dass er auch die Deckenbereiche in geschlossenen Räumen im Auge behalten musste, wenn er überleben wollte. Nichts. Und hinter den uralten, verrosteten Gartengeräten und dem windschiefen Regal konnte sich niemand verstecken außer ein paar Spinnen vielleicht. Dunkle Ecken gab es auch nicht, das Licht, das durch das schmale, staubblinde Fenster fiel, leuchtete den kompletten Raum aus. In der Mitte lag eine Decke, darauf verstreut ein paar Männermagazine mit aufklappbarem Innenposter.
Unter normalen Umständen hätte Nicole sich amüsiert, denn sie hatte eins von Lord Zwergs Verstecken aufgespürt. Doch jetzt stieg eher Panik in ihr hoch. Was, wenn der Junge doch hier gewesen war? Die gelbe Feder…
Die Dämonenjägerin zog sich aus der Kammer zurück, nahm die Feder hoch, betrachtete sie nachdenklich und ging dann nach unten, immer noch gespannte Aufmerksamkeit. Sie schaute dabei in jedes Zimmer, das zugänglich war, fand aber nichts Verdächtiges. Viele waren es ohnehin nicht, denn die komplette Südseite des Châteaus war unbewohnt und viele Kammern des Südturms schon vor langer Zeit mit Brettern vernagelt worden. Bis heute hatten sie noch nicht alle Kammern des Turms und des Südflügels erforscht, ebenso wenig wie die weit verzweigten Kellergewölbe unter dem mächtigen Bauwerk. Dass in und unter den uralten Mauern noch manches Geheimnis lagerte, davon gingen sie in der Zwischenzeit zwingend aus. Über eines davon waren sie erst neulich gestolpert. Möglicherweise hing dieses Geheimnis, das zwischenzeitlich allerdings keines mehr war, direkt mit ihrer unheimlichen Sichtung zusammen.
Im Hof begegnete sie Lord Zwerg und atmete befreit auf, auch wenn der Junge wegen Foolys Bewusstlosigkeit schwer den Kopf hängen ließ und gerade lustlos einen Stein weg kickte. Nicole ging zum Nordturm und stieg in den zweiten Stock, wo Zamorra in seinem Arbeitszimmer werkelte.
Der Professor saß gerade hinter seinem mächtigen hufeisenförmigen Schreibtisch am mittleren von drei Computerarbeitsplätzen und fuhr mit der Maus über das Mousepad. Er lächelte, als seine Geliebte eintrat.
»Ich habe gerade Leonardo gesehen«, sagte Nicole.
Zamorras Lächeln erstarb schlagartig.
***
Schottisches Hochland, Tal von Trossach
Heute musst du dran glauben, König. Myrtle Ledford nannte ihn König. Seit Wochen war sie hinter ihm her. Aber der überaus prächtige Zwölfender, ein so genannter Royal Stag, war ihr bisher immer wieder entkommen, ein Mal im buchstäblich allerletzten Moment. Sie hatte ihn bereits vor der Flinte gehabt, doch der Kerl schien eine Art siebten Sinn zu haben. Heute Nacht jedoch würde er tot zu ihren Füßen liegen, das sagte ihr eine innere Eingebung. Darauf hatte sie sich noch immer verlassen können.
Die junge, hübsche Frau liebte die Jagd, war schon als kleines Mädchen mit ihrem Vater durch die Wälder und Sümpfe gezogen, um auf Hirsche und Moorhühner zu gehen. Sie zwängte sich in Kniebundhosen aus derbem Stoff und zog ihre Wanderschuhe an. Dann klemmte sie sich hinters Steuer ihres Jeeps und fuhr zum Loch Muick hinauf. Der lang gezogene See lag inmitten einer wild romantischen Hochgebirgslandschaff. Steile Felsufer säumten ihn. Auf den Wanderwegen, die um das Gewässer führten, sah Myrtle eine Sechsergruppe, die dem Bootshaus zu strebte. Mehr als einen kurzen Blick waren ihr die Wanderer jedoch nicht wert. Das Jagdfieber hatte sie bereits gepackt.
Die Sonne schien über Balmoral Estate. Eine Seltenheit. Sehr viel normaler war da schon der raue Wind, der zusehends auffrischte und die
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