0955 - Blutiger Dschungel
Eines habe ich dabei gelernt. Du kannst niemandem helfen, der sich nicht helfen lassen will, weil er seine Lebensumstände als absolute Normalität ansieht. Ich hatte mir das Vertrauen einer Gruppe von Kindern erarbeitet, die hier von den Bossen als Touristenfänger eingesetzt wurden. Als ich alles vorbereitet hatte, die Kids aus der Kasbah zu holen, weihte ich sie in meinen Plan ein. Der älteste der Jungen blickte mich verständnislos an und sagte: Was ist mit dir los, Mann? Bist du irre geworden? Wir sollen hier alles aufgeben? Wir sind die besten Schnapper der ganzen Kasbah - vergiss deinen blöden Plan. Keiner von uns geht fort von hier.«
O'Hara hatte seine Stimme so angehoben, dass Artimus tatsächlich glaubte, einen pubertierenden Burschen von den Straßen und Gassen dieser Stadt zu hören. O'Hara schüttelte heftig den Kopf.
»Lass uns lieber den Kindern helfen, die auf eine Hand warten, die sie aus dem Elend zieht. Was weißt du über Kolumbien?«
Womit er wieder bei seinem offensichtlich liebsten Thema angekommen war. Doch van Zant spielte bereitwillig mit. Er kannte seinen Freund, der war eben hartnäckig.
»Was weiß ich über Kolumbien. Nicht sonderlich viel, wie ich gestehen muss. Sicher nicht mehr als jeder andere. Eine Republik im Norden Südamerikas, Kaffee und Zucker, der Orinoco und…«
O'Hara beendete den Satz für Artimus.
»… und Drogen, Drogen und nochmals Drogen. Kein zweites Land der Welt wird so mit dem groß angelegten Drogenhandel in Bezug gesetzt wie Kolumbien. Und das mit Recht! Weißt du, was die Jungs beim Zoll in Amerika sagen? Wenn eine einmotorige Maschine aus Richtung Kolumbien kommend die Grenze zur USA überfliegt, fallen dort am Boden die Drogenspürhunde vor Verzückung in Ohnmacht.«
Van Zant zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Sehr witzig - und doch wohl maßlos übertrieben, nicht wahr?«
O'Hara schüttelte den Kopf.
»In keiner Weise übertrieben. Die Mengen Rauschgift, die von Kolumbien aus in die USA eingeschmuggelt werden, sind unfassbar groß. Natürlich erwischen die Drogenfahnder immer wieder die eine oder andere Lieferung, doch das verschmerzen die Drogenbosse in Kolumbien mit einem müden Lächeln. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in tiefster Armut und so sind viele bereit, sich vor den Karren der Drogenkartelle spannen zu lassen. Wenn jemand Hunger leidet, dann ist es ihm ganz schnell vorbei mit Skrupeln und Bedenken, denn sein Leben wird vor einem leeren Magen gesteuert.«
Artimus van Zant hörte aufmerksam zu. Das alles war ihm nicht neu. Er konnte nur noch immer keinen Grund erkennen, warum er sein Engagement nach Kolumbien verlagern sollte - den Kinder in der Kasbah erging es doch nicht besser. O'Hara sprach weiter.
»Doch die Drogen werden nicht nur außer Landes gebracht - der Markt in Kolumbien selbst ist riesig groß; ein großer Teil der sogenannten Touristen sind Menschen, die dort ihre Sucht ausleben wollen. An jeder Straßenecke kann man sich in den größeren Städten mit seinem ganz speziellen Stoff eindecken.« O'Hara senkte seine Stimme, denn die anderen Gäste dieses fragwürdigen Etablissements waren auf das Gespräch zwischen den beiden Männern aufmerksam geworden. Worte wie Kartell oder Drogen trafen hier auf großes Interesse. Artimus neigte sich O'Hara näher zu, damit er den Freund deutlich genug verstehen konnte.
»Und genau da kommen die Kinder ins Spiel. Gibt es bessere Kuriere, bessere Straßenhändler als Kinder? Sie sind klein, flink, sie lassen sich auf keine Feilschereien ein - und wenn der Kunde ihnen die Ware mit Gewalt abnehmen will, sind sie schnell wie die Wiesel in der Menschenmenge verschwunden.«
Artimus war entsetzt. Eine Sache konnte er jedoch nicht begreifen.
»Warum fliehen die Kinder nicht? An Schnelligkeit sind sie den Drogenbossen doch überlegen, zudem können sie sich im kleinsten Erdloch verstecken, bis die Gefahr vorüber ist. Oder denke ich da zu naiv?«
O'Hara nickte.
»Absolut zu naiv, mein Freund. Was denkst du wohl, wie die Kartelle die Kinder an sich binden, damit die erst überhaupt keine Fluchtgedanken bekommen?«
Van Zant kannte die Antwort darauf nicht. Dabei war sie so offensichtlich und grausam zugleich.
»Man macht die Kleinen abhängig. Drogensüchtig.«
Artimus spürte das Kribbeln, das sich in seinem Körper ausbreitete. Eine unbändige Wut sammelte sich und wurde zu einem dicken Kloß, der in seinem Hals stecken blieb. Seine Stimme klang wie das Knurren eines gereizten
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