Aus Nebel geboren
Gott will es
Jerusalem, 1099
Qualvolle Schreie zerrissen die Nacht. Der Geruch von Tod und Angst schwängerte die Luft. Verstümmelte Leichen säumten die Straßen und tränkten das Pflaster mit ihrem Blut.
Im Namen Gottes mordeten, vergewaltigten und brandschatzten die Ritter, als rechtfertige das Kreuz auf den Bannern ihr teuflisches Treiben. Als könnten sie die Schuld, die sie in dieser Nacht auf sich luden, allein durch ihre heilige Mission begründen und als würden sie dabei nicht ihre Seelen der ewigen Verdammnis preisgeben, denn schließlich streckten sie Ungläubige nieder. Heiden, die ihre Tore vor Gott verschlossen hatten.
Aber die Tore Jerusalems waren gestürmt, die Stadt gefallen.
Auch Julien Colombier war dem Aufruf von Papst Urban II. mit einer Schar Ritter gefolgt. Die Heilige Stadt aus den Händen der Heiden zu befreien, war ihm als eine gute Sache erschienen.
Hektisch sah er über seine Schulter und gab den Männern hinter sich das Zeichen, ihm zu folgen, als er durch einen Torbogen in den dunklen, von hohen Mauern umgebenen Vorhof eines Palastes verschwand.
Schwer atmend stützte Julien sich an den rauen Steinen ab und wischte sich Blut und Schweiß aus dem Gesicht. Erleichtert stellte er fest, dass sich alle seine Kämpfer um ihn versammelten. Zu viele gute Männer verloren in diesem Irrsinn ihr Leben. Hier gab es keine Sieger, auch wenn ihr Befehlshaber, Gottfried von Bouillon, das vielleicht anders empfand. Mehr als die Hälfte aller Männer, die unter seinem Befehl in Frankreich aufgebrochen waren, waren tot. Gestorben im Namen der Kirche und ihres Glaubens.
Julien selbst betete jeden Tag aufs Neue darum, lebendig nach Frankreich zurückzukehren. Wie naiv er vor vier Jahren gewesen war, als er, gerade dreißig geworden, dies alles noch für ein großes Abenteuer gehalten hatte. Für eine Möglichkeit, Ruhm, Ehre und Gottgefälligkeit zu erlangen. Aber in dieser Nacht war nichts ruhmreich, keiner der Männer besaß noch so etwas wie Ehre, und Gott musste sich angesichts ihrer Gräueltaten längst von ihnen abgewandt haben. Der Kampf rief nach ihnen, und das Adrenalin in ihren Adern trieb sie an, ihre Klingen zu heben. Seine Männer waren bereit, die Stadt zu stürmen. Ihr Blutdurst war beinahe greifbar, aber lieber würde Julien sich wegen Befehlsverweigerung anklagen lassen, als zuzulassen, dass sich seine Truppe an diesem Gemetzel beteiligte.
„Juls? Was ist los? Im Stadtkern ist der Kampf in vollem Gange!“, rief Louis, der Sohn eines Adeligen aus Avignon, und schwang sein von Blut glänzendes Schwert. „Und wir drücken uns hier an der Stadtmauer herum.“
Julien richtete sich zu seiner beachtlichen Größe auf und sah reihum in die schmutzigen Gesichter der Männer, die mit ihm in den letzten Jahren gekämpft, gelitten und gelacht hatten, ehe er mit fester Stimme zu sprechen ansetzte.
„Meine Freunde, öffnet die Augen! Seht ihr nicht, was hier geschieht? Kann dies wirklich Gottes Wille sein?“
„Deus lo vult!“, widersprach Louis und rammte sein Schwert in den sandigen Boden.
Der Kriegsruf hallte aus Tausenden Stimmen durch Jerusalem, sodass Louis‘ Ruf wie ein Echo des ganzen Heeres klang.
„Gott will es? Bist du dir da sicher, Bruder? Reicht ein Versprechen auf ewige Glückseligkeit im Himmelreich aus, dich in diesem Leben jede Menschlichkeit vergessen zu lassen?“
Die Palastmauern warfen Juliens Worte zurück und verstärkten ihre Wirkung.
„Aber, Julien! Dieser Kampf … es ist die große Schlacht. Deswegen sind wir hier! Dies ist die Nacht, in der Geschichte geschrieben wird! Heute mache ich mir einen Namen!“, rief Louis wütend.
„Und was für ein Name soll das sein? Willst du wirklich zu Hause vor deinen Schwestern stehen und damit prahlen, wie viele ungläubige Kinder du massakriert und wie viele wehrlose Frauen du geschändet hast?“
Julien schüttelte angewidert den Kopf. „Ich kenne dich, Louis – auch, wenn der tobende Kampf wie eine Sirene nach dir schreit, weiß ich, dass du dich, wärst du bei Vernunft, daran niemals beteiligen würdest!“
Louis sah zu Boden, und auch die anderen ließen zögernd ihre Schwerter sinken. Sie sahen sich an. Die blutgetränkte Kleidung klebte ihnen am Körper, das rote Kreuz auf ihren Brustharnischen war besudelt und der kupferne Geruch von Tod und Verderben schon Teil von ihnen geworden.
Aus einer Schnittwunde am Arm von Juliens Waffenbruder Lamar rann das Blut hinab zu dessen Schwerthand, und er presste
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