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0965 - Die zweite Unendlichkeit

0965 - Die zweite Unendlichkeit

Titel: 0965 - Die zweite Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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Bedürfnisanstalt darstellte. Der Jäger lächelte jedoch nur und ging hindurch, ließ die metallenen Stangen seinen kurzzeitig substanzlos werdenden Leib durchstreifen, und nahm erst auf ihrer anderen Seite wieder Form an. Kein Drehkreuz dieser Erde vermochte ihn aufzuhalten, wenn er auf der Jagd war. Nicht, wenn er es nicht wollte.
    Das Innere der Toilette machte einen menschenleeren Eindruck. Zwei Reihen zu je drei Kabinen führten zu einer Serie von Waschbecken, die an der hinteren, dem Eingang gegenüberliegenden Wand hingen. In den Spiegeln über diesen reflektierte das Licht der kalten, unregelmäßig flackernden Neonröhren an der Decke. Der Jäger zwinkerte der Überwachungskamera zu, die links über ihm an der Decke hing. Er wusste, dass sie seine Anwesenheit genauso wenig registrierte wie die Spiegel dort hinten. Für sie stand niemand in diesem weiß gekachelten unterirdischen Kabuff. Einzig er und die Beute wussten, was wirklich vor sich ging. Und es wurde Zeit, sie nicht länger warten zu lassen.
    »Komm raus, komm raus, wo immer du bist«, sang er leise und öffnete die erste Kabinentür. Leer, natürlich. Er wusste genau, wo die Beute war, witterte es, aber es bereitete ihm ein höllisches Vergnügen, kurz vor dem Todesstoß noch Normalität zu suggerieren. »Ich find dich ja doch, also kannst du dich auch gleich ergeben.« Er schmunzelte. »Vielleicht bin ich dann gnädig.«
    Das würde er natürlich nicht sein. Aber es klang so schön.
    Plötzlich knarrte hinter ihm etwas.
    »Kluges Mädchen«, hauchte er, und ein magisch anmutendes Echo ließ die Worte von den Wänden widerhallen. Dann drehte er sich um.
    Die Beute war maximal achtzehn. Kurze, rotblonde Haare über einem schmalen, sommersprossigen Gesicht, das so verschwitzt und tränenüberströmt war, dass sich die Flackerlichter von der Toilettendecke in ihm spiegelten. Sie trug abgewetzte Netzstrümpfe, einen viel zu kurzen Jeansrock und ein dünnes Top, über das sie eine schmutzig weiße Jacke aus Pelzimitat gezogen hatte. Eine schwarze Tasche baumelte ihr von der Schulter.
    »Nein«, wimmerte die Beute und sah ihm entgegen. »Bitte nicht.« Sie hatte sich an die Wand gepresst, zwischen Toilette und Kabinenteiler, als sei sie wie er und in der Lage, durch jedes Hindernis hindurchzugleiten. Ihr ausgestreckter, zitternder Arm deutete in seine Richtung - eine Reflexhandlung. Sinnloser Abwehrversuch, wie er es schon hundertfach gesehen hatte.
    »Ich fürchte doch«, raunte Kyrgon und trat näher. Inzwischen drohte ihr Geruch ihm jegliche Selbstbeherrschung zu rauben. Wie immer, wenn er ihnen derart nahe war. Lange würde er sich nicht mehr zurückhalten können. »Ich fürchte doch.«
    Er ließ sich gehen, löschte die einengende Schneider-Form aus und wurde schwarzer, todbringender Dunst. Sein eigentliches Ich.
    Dann schwebte er über die Schwelle in die Kabine hinein.
    Die Beute kreischte.
    Doch was war das? Die ganze Welt schien sich plötzlich zu drehen! Kyrgon war, als wolle eine unbekannte Macht ihn von innen nach außen stülpen.
    Verzweifelt registrierte er, wie er wieder Form gewann - gegen seinen Willen und ohne sein Zutun. Dann überkam ihn die Nacht, die hinter seinen Lidern wartete.
    Dass er abermals zu Boden ging, registrierte der Jäger schon nicht mehr.
    ***
    Am Anfang war der Staub.
    Er roch ihn, schmeckte ihn - und erst dann wurde ihm bewusst, dass er darin liegen musste.
    Die Erinnerungen kamen erst danach, aber sie kamen. Schreiend fuhr Kyrgon hoch und hob abwehrend die Hände. Die Beute! Wo steckte sie? Hatte er sie etwa…
    Verdutzt hielt er mitten im Gedanken inne und blinzelte. Das war nicht der Frankfurter Hauptbahnhof! Was war geschehen?
    Obwohl es nahezu stockfinster war, brauchte er nicht lange, um Details seiner neuen Umgebung auszumachen. Er befand sich in einer nur schäbig zu nennenden, fensterlosen Kammer. Schmutzig weiß verputzte Steinwände, die von dicken, dunklen Holzbalken durchzogen waren, grenzten an einen Boden aus abgewetzten Dielen, die aussahen, als brächte sie schon ein böser Blick zum Knarren - wenn nicht gar zum Brechen. Auch die Decke bestand aus derartigen Brettern und machte einen alles andere als stabilen Eindruck. So mochten Zimmer in Bauernstuben längst vergangener Jahrhunderte ausgesehen haben.
    Hinter sich sah er eine nach innen gehende, offene Tür, und dahinter einen in der gleichen Finsternis liegenden Korridor. Soweit er auf die Schnelle und von seiner Position aus erspähen konnte,

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