0965 - Die zweite Unendlichkeit
»Aber das kann warten. Zumindest bis ich Nachschub geordert habe.« Dabei deutete sie auf die Reste der Mahlzeit.
Zamorra hob die Weinflasche vom Tisch. Auch sie war fast leer. »Stichwort Nachschub.«
»Wird erledigt«, sagte seine Gefährtin. »Jetzt muss ich nur noch William oder Madame Claire finden.« Schmunzelnd wandte sie sich ab und ging in Richtung Küche.
Gryf seufzte wohlig. »Tut gut, oder? So eine kleine Verschnaufpause zwischendurch?«
Zamorra nickte, wenngleich er die Entspannung, die Gryf zu fühlen schien, nicht ganz teilen konnte. Die Ereignisse der letzten Wochen nagten noch immer an ihm, und das Wissen, nicht am Ende, sondern eher mittendrin in diesem Chaos zu stecken, tat sein übriges, ihn seine emotionale Deckung aufrecht erhalten zu lassen. Gedanken an Rhett und Lady Patricia, an London, Südamerika und all die anderen offenen Baustellen machten es ihm Tag für Tag nahezu unmöglich, wirklich zur Ruhe zu kommen.
Dann geschah es! Die Wirklichkeit bewies, wie recht er damit hatte.
Als Nicoles Schrei ertönte, reagierte der Meister des Übersinnlichen prompt. Zamorra wandte den Kopf, sah zur offen stehenden Tür des Wohnzimmers…
... und erkannte gerade noch, wie seine Gefährtin verschwand!
Nicole stand auf der Schwelle, regungslos wie eine Figur in einer Fotografie, und verlor in rasend schneller Geschwindigkeit an Substanz. Sie verblasste, schien sich binnen eines Augenblicks aufzulösen. Bevor Zamorra den Anblick voll erfassen und darauf reagieren konnte, war das Spektakel auch schon vorbei. Nur noch der Hall ihres Schreckensschreis blieb, das Unfassbare zu bestätigen.
Zamorra sprang auf. »Nici?«
»Sag mir, dass du das auch gesehen hast«, murmelte Gryf hinter ihm. Er klang so fassungslos und bass erstaunt, wie Zamorra sich fühlte.
»Gesehen und gehört. Was zum Teufel war das?« Die Gedanken des Professors überschlugen sich. Handelte es sich um ein magisches Phänomen? Der Verdacht lag nahe, aber hier im Château? Ohne dass seine Sicherheitsvorkehrungen griffen oder ihm wenigstens sein Bauchgefühl eine drohende Gefahr signalisierte? Ohne lange nachzudenken, eilte der Dämonenjäger zur Tür, und der Druide folgte ihm. Kurz vor der Schwelle hielten sie an und betrachteten sie, als sei sie eine Waffe, deren Funktion sich ihnen nicht erschloss.
»Sieht aus wie immer«, beschrieb Gryf unnötigerweise. »Ich registriere keinerlei ungewöhnliche Gerüche, kein Kribbeln meines sechsten Sinns - nichts.«
»Und doch haben wir es beide gesehen.« Zamorra schüttelte den Kopf. »Nici?«, rief er erneut, und abermals blieb die Gefährtin eine Antwort schuldig. Nicole Duval war eine erfahrene Kämpferin des Lichts und hatte schon unzählige Situationen überstanden, die andere Menschen über den Rand ihrer geistigen wie körperlichen Belastbarkeit geführt hätten. Was immer ihr widerfahren war, bedeutete nicht zwangsläufig ihr Ende. Dennoch wuchs Zamorras Sorge. Dieses Bild der sich auflösenden Nicole… Es war wie eine eiskalte Leichenhand, die immer wieder über seinen Rücken strich.
»Warte mal.« Gryf schloss die Augen, machte einen Schritt zur Seite und verschwand ebenfalls. Doch der Druide bediente sich nur einer seiner besonderen Fähigkeiten, des zeitlosen Sprungs , der es ihm ermöglichte, sich zu jeder beliebigen Person zu teleportieren, wenn er sich auf sie konzentrierte.
Keine fünf Sekunden später war er wieder da. »Nichts«, sagte er bedauernd. »So sehr ich mich auch auf Nicole konzentriere, finde ich sie nicht. Nirgends.«
Zamorra nickte. »Dann ist sie entweder irgendwo, wo selbst ein Silbermonddruide nicht mehr hingelangt, oder…«
Oder sie ist doch tot. Er musste es nicht aussprechen, um zu wissen, dass sie es beide dachten.
»Na ja, es gibt nur einen Weg, es herauszufinden, oder?«, murmelte der Professor. Er warf seinem jugendlich aussehenden, uralten Gast einen vielsagenden Blick zu.
»Du meinst doch nicht -«, setzte Gryf an, doch bevor der Druide seine Sorge in Worte fassen konnte, hatte Zamorra bereits den Fuß über die Schwelle gesetzt - und erstarrte!
Kapitel 2: Faites vos jeux!
Feuer.
Gestank.
Schmerz!
***
Der Schmerz überstieg alles, was er sich hatte vorstellen können. Sein Leib und sein Geist schienen in Flammen zu stehen, während sich gleichzeitig spitze kalte Nadeln in jede Pore und jeden Nervenstrang bohrten - zumindest fühlte es sich so an.
Zamorra schrie, wand sich, bäumte sich gegen die Macht auf, die so plötzlich
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