Shakran
1
E s war ein langer Flug gewesen. Ann beugte sich vor. Sie musterte sich kritisch im Spiegel des Waschraums und strich die Haare nach hinten. Jetzt entdeckte sie auch die feinen weißen Linien. Ganz ohne Make-up und wenn sie so müde war wie jetzt, konnte man die Narben sehen. Aber nur dann.
Sie sah sich das Gesicht an, das ihr entgegenblickte. Es war ein schönes Gesicht, gerade klassische Nase, geschwungene Augenbrauen, ein voller, sinnlicher Mund, ein Kinn, das vielleicht ein wenig zu eckig und zu stur war, das dem Gesicht aber Charakter verlieh. Ein paar wenige Sommersprossen waren auf den hohen Wangen verteilt. Zumindest die Sommersprossen sollten ihre eigenen sein.
Es war ihr Gesicht. Sie fuhr mit der Hand über ihren rechten Wangenknochen und fühlte die feine Unebenheit unter der Haut. Heute schmerzte er wieder.
Nach so einem langen Flug tat ihr alles weh.
Schulterlange braune Haare. Sie war groß, fast eins achtzig, schlank, athletisch. War sie hübsch? Die Leute sagten es, aber sie wusste es nicht. Durchschnitt vielleicht. Wenn sie lächelte, war es anders, dann hatte die Maske Leben und Charakter. Auch nach so vielen Jahren fühlte sich ihr Gesicht noch immer fremd an. Eine Maske, unter der sie sich nicht finden konnte.
Langsam, sorgfältig legte sie Make-up auf. Es war wie ein Ritual, wie eine Neuerschaffung ihrer selbst.
Manchmal, wenn sie die Augen schloss, sah sie die Bilder aus dem Polizeibericht. Heute war es besonders schlimm gewesen. Es war schon im Flugzeug losgegangen, noch bevor der Jet in Rom abgehoben hatte. Rasende Kopfschmerzen, Flattern in der Brust, Schweißausbrüche.
Die Frau im Spiegel wirkte selbstbewusst, doch Ann wusste es besser. Sie fühlte die Angst, eine Angst, die so viel schlimmer war, weil sie keine Erklärung dafür fand.
Sie ließ den Kopf sinken und schloss die Augen.
Was war heute nur mit ihr los? Es war Wochen her, dass es sie so sehr getroffen hatte wie heute.
Sie dachte zurück. Als sie in Rom das Flugzeug bestiegen hatte, war sie noch bester Laune gewesen, hatte sogar über den seichten Witz lachen können, den ihr irgendein Passagier erzählt hatte.
Das Schicksal hatte ihr einen ganz besonderen Streich gespielt. Hier stand sie, und sie wusste nicht, wer die Frau im Spiegel war. Sie konnte sich an alles erinnern - bis hin zu jenem Augenblick vor acht Jahren, als sie im Krankenhaus aufgewacht war.
Sie kannte einen Trick. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich exakt erinnern. Als liefe ein Film ab. Farben, Schatten, Gerüche, die Farbe der Krawatte vom Nachbarn, die Ohrringe der Stewardess, die Leute im Overall, die draußen auf der Landebahn einen Container vor sich herschoben. Fotografisches Gedächtnis nannte man das wohl. Was für eine Ironie. Sie konnte sich an alles erinnern - nur nicht an sich selbst.
Sie ging weiter zurück in ihrer Erinnerung, studierte ein zweites Mal das Menü, entschied sich ein zweites Mal dafür, den Film im italienischen Original zu sehen, sah ein zweites Mal den Passagier im grauen Anzug, der sie freundlich, aber desinteressiert ansah.
Sie merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
Sie öffnete die Augen wieder und sah ihr Spiegelbild, das auf einmal nicht mehr selbstbewusst wirkte. Es war Angst, sie sah Angst in ihren eigenen Augen. Sie hatte Angst vor diesem Mann.
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte sie ihn schon einmal gesehen, und sie konnte sich nur nicht an ihn erinnern. Und er nicht an sie. Wahrscheinlich nur Einbildung.
Diesmal nicht. Und das weißt du auch.
Sie hörte nicht hin, nahm die Bürste aus der Tasche, begann, mit langsamen ruhigen Bewegungen ihre Haare zu bürsten. Auch das war ein Ritual. Sie hatte es in der Therapie gelernt. Es half gegen die Angstattacken. Man musste nur die Bürste gleichmäßig durch die Haare ziehen und dabei an irgendetwas denken, nur nicht an das, was einen erschreckte.
Solange du wegläufst, wird nichts helfen.
Der Haaransatz. Wenn sie genau hinsah, war er wieder zu erkennen. Zeit für eine neue Tönung. Sie schüttelte den Kopf wie die Frau in der Fernsehwerbung, nur nicht in Zeitlupe, schüttelte alles einfach aus. Sie musste grinsen und streckte ihrem Ebenbild im Spiegel die Zunge heraus.
Ein Schuss? Sie war sich nicht sicher. Wahrscheinlich Einbildung.
Natürlich war das ein Schuss.
Vielleicht eine Fehlzündung.
Auf der anderen Seite der Wand? Klar doch. Tu was!
Wieder ein Schuss.
Kleines Kaliber, schallgedämpft. Vielleicht eine Walther. Tu was, steh
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