0973 - Der verhexte Blutwald
ihrem Kleid klebten Blätter. Sie ließ sie daran hängen. Dann stand sie auf. Wie lange sie auf dem Boden gelegen hatte, das wußte sie nicht. Es war auch nicht schlimm. Was brachte es schon, wenn sie über eine Zeit nachdachte?
Mit kleinen Schritten ging sie auf einen der Bäume zu. Vor ihm blieb sie stehen wie jemand, der überlegt. Dann breitete sie die Arme aus und umschlang den Stamm wie eine Frau ihren Geliebten. So ähnlich kam ihr der Baum auch vor.
Ob sie in einen Wachtraum verfiel oder nicht, das konnte sie nicht sagen, denn sie hatte den Eindruck, als würde sich der Baum bewegen. Sich nach vorn wiegen, wieder zurückdrängen, sich dabei drehen und um ihren Körper schlingen.
Aus kurzer Distanz betrachtete sie die Rinde, die ihr vorkam wie eine Haut. Sie bewegte sich - und riß. Zwei Augen entstanden, deren Blicke ihr Innerstes erreichten, sich schnell wieder zurückzogen, und auch Greta ließ den Baum los.
Sie hatte sich verändert. Etwas war anders an ihr. Im Gegenlicht des Mondes trat sie aus dem Schatten des Baumes hervor. Etwas klebte auf den Innenseiten ihrer Arme. Als sie hinschaute, sah sie die dunkle, dicke Flüssigkeit, die sich dort ausgebreitet hatte und auch haften blieb. Der Geruch drang in ihre Nase; Er war ihr nicht unangenehm, auch nicht fremd, denn sie kannte schon seit Jahren. Nur hatte er sich in dieser Nacht verstärkt. Er war intensiv wie selten geworden und schien das Innere ihres Körpers von den Füßen bis hin zur Stirn zu erfüllen.
Es war Platz genug vorhanden. Sie konnte sich bewegen, und Greta trat ein paar Schritte zurück, ohne zu stoppen, denn die letzte Bewegung ging in eine tanzende über. Sie drehte sich auf der Stelle. Ihr Kopf war voll mit anderen, fremden und trotzdem irgendwo vertrauten Gedanken.
Plötzlich war sie kein Fremdkörper mehr, sondern ein Teil des Waldes, der sie angenommen hatte.
Endlich! Endlich!
Sie lebte zwei Leben. Der Wald und die Nacht würden zu ihren besonderen Freunden werden, denn als Rosenrot konnte sie laufen, gehen, springen und tanzen. Das war die eine, die wunderbare Seite.
Der Tag interessierte sie nicht mehr. Er war so anders, er war so normal.
Und die Normalität wollte sie einfach vergessen. Das erste Leben mußte zurückgedrängt werden.
Greta Kinny blickte sich um. Dunkel waren die Bäume, der Himmel und der weiche Boden. Auch er zählte zu ihren Freunden. Er war nicht tot.
Etwas lebte in ihm. Es pochte, es klopfte. Ein riesiges Herz, das die im Erdboden verborgenen Blutströme in all die zahlreichen Adern legte, die die Tiefe durchzogen.
Nichts war tot.
Alles lebte.
Jeder Baum, jeder Strauch, jedes Blatt. Und sie gehörte dazu.
»Mein Blutwald«, flüsterte sie. »Es ist mein Blutwald.«
Tanzen, Lachen. Das Stampfen der Füße auf dem weichen Boden. Die Umarmung mit der Natur, die nicht mehr fremd für sie war. Das Wunder erleben und eins mit ihm sein.
Die folgende Nacht würde kommen. Zuvor mußte sie noch den Tag überstehen. Es machte ihr nichts aus. Sie würde in den Rollstuhl zurückkehren und sich einzig und allein auf die Dunkelheit vorbereiten.
Sie konnte regenerieren und…
Eine Säge jagte brutal durch ihren Kopf und störte die optimistischen Gedanken.
In der Bewegung stoppte sie, die Arme erhoben, die Hände um einen tiefer hängenden Zweig geklammert, der durch die Berührung leicht wippte.
Gretas Gesicht verlor alle Fröhlichkeit. Auf ihrer Haut und in ihrem Innern brannte es. Die Lippen glühten, die Störung war nach wie vor da. Sie löste die Hände vom Zweig und lauschte.
Hören konnte sie nichts, nur fühlen. Da glich sie ebenfalls der sie umgebenden Natur. Greta war sehr sensibel geworden. Sie tastete sich gefühlsmäßig weiter, kam sich allerdings vor, als müßte sie noch durch gedankliche Schlammwelt waten.
Etwas war da.
Etwas Fremdes.
Etwas, das nicht in diesen Wald und in ihre heile Welt hineingehörte. Sie wußte es. Sie ärgerte sich. Ihre Zone durfte niemand betreten, der nicht dazugehörte oder von ihr die Erlaubnis dazu erhalten hatte.
Wenn er es trotzdem tat, dann hatte er die Folgen zu tragen. Der Wald würde ihn nicht annehmen. Er würde sich gegen den Eindringling stellen.
Wenn es sein mußte, würde er ihn auch vernichten…
***
Perry Cameron war ein Mann, der es gelernt hatte, die Sicherheit an die erste Stelle zu setzen. Aus diesem Grunde verzichtete er auch auf ein elektronisches Notebook und verließ sich auf den guten alten Notizkalender, denn der konnte nicht
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