0974 - Monsterzeit
später landete die Baumkrone mit einem gewaltigen Krachen auf dem Erdboden.
Sicherheitshalber hatten wir uns noch weiter zurückgezogen, beinahe schon bis an den Rand des Waldes. Wir wurden nicht mal von irgendwelchen versprengten Resten erwischt. Sie hatten sich bereits in Asche aufgelöst.
Kinnys Blick flackerte. Er hatte alles mit ansehen müssen, und er war geschockt. »Was war das? Verflucht!«
Wir schwiegen. Auch für uns war dieser Vorgang neu gewesen. Damit mußten wir erst fertig werden und ihn einsortieren.
Nicht so unser Zeuge. Er konnte sich nicht mehr halten. Urplötzlich brüllte er los. Er schrie uns an. Seine Worte waren kaum zu verstehen, einmal war Suko an der Reihe, dann ich.
Von schreienden Bäumen brüllte er, von einer verfluchten Erde und der Rache der Natur. Bis er nicht mehr konnte und sich an seinem eigenen Atem verschluckte. Er wollte auch nicht mehr stehenbleiben und sackte dort zusammen, wo er sich aufhielt.
Daß dieser Mann dermaßen die Nerven verlieren würde, damit hatten wir nicht gerechnet. Dabei waren wir durch seine Initiative erst nach Irland gekommen, aber das spielte nun keine Rolle.
Für mich war wieder etwas anderes wichtig. Der Geschmack in meinem Mund hatte sich aktiviert. Wieder kam es mir vor, als wäre ich dabei, auf irgendwelchen Blättern und deren Säfte zu kauen. Bei Suko war dieses Phänomen nicht aufgetreten. Bei mir hing es mit der zwei Jahre zurückliegenden Begegnung zusammen, denn da hatte ich eine gewisse Greta Kinny in einer Bank kennengelernt, die genau in der Zeit überfallen wurde, als wir uns in ihr aufhielten.
Es hatte keine Toten gegeben, dafür eine schwerverletzte Person, ausgerechnet Greta.
Später, als ich sie im Krankenhaus besuchte, hatte ich die bittere Wahrheit erfahren. Greta würde für immer gelähmt bleiben und mußte ihr weiteres Leben im Rollstuhl verbringen. Aber sie war nicht allzu deprimiert gewesen. Sie hatte mir nur erzählt, daß sie wieder zurück nach Irland in ihre Heimat gehen würde. Denn dort fühlte sie sich wohl. Es schien ihr auch nichts auszumachen, das Leben im Rollstuhl zu verbringen.
Und dann hatte sie mir zum Abschied einen ziemlich heißen Kuß gegeben.
Der wiederum war bei mir nicht ohne Folgen geblieben, denn nach ihm hatte sich in meinem Mund dieser bittere und gleichzeitig süßliche Geschmack ausgebreitet. Auf der einen Seite nach Blut schmeckend, auf der anderen nach Pflanzensaft. Durch den Kuß war eben dieser Geschmack von Greta, die sich auch Rosenrot nannte, auf mich übertragen worden.
Ich hatte Greta vergessen. Zwei Jahre vergingen, dann wurden wir hier nach Irland gerufen, um dem Phänomen der schreienden Bäume auf den Grund zu gehen.
Und ausgerechnet Douglas Kinny hatte uns geholt. Es gibt zahlreiche Kinnys in Irland, aber er war der Vater dieser jungen Frau, die jetzt im Rollstuhl saß.
Zufall?
Ich wußte es nicht und glaubte deshalb auch eher an das Schicksal, das wieder einmal einen seiner berühmten Kreise geschlossen hatte. Weit waren wir noch nicht gekommen. Wir hatten praktisch den ersten Kontakt mit diesem unheimlichen Phänomen erlebt, aber die nächsten Schritte waren vorgezeichnet.
Doug Kinny mußte seine Defensive verlassen. Dies hieß für ihn das Hervorkriechen aus dem Schneckenhaus und die Aufgabe seiner Sturheit, denn nun spielte seine Tochter eine weitere Hauptrolle.
Bisher hatten wir sie aus dem Spiel gehalten. Doug wußte nur, daß ich sie kannte, aber ich wußte auch, daß sie nicht weit von hier lebte und mit diesem Wald einfach in Verbindung stehen mußte. Diesmal würden wir mit ihr reden müssen, auch wenn ihr Vater dies aus nachvollziehbaren Gründen nicht akzeptierte, denn sein Beruf war lebensgefährlich. Er gehörte zu den Agenten, die gegen die IRA arbeiteten und auf deren Abschußliste standen.
Kinny hatte sich wieder beruhigt. Er hockte zwar noch auf dem Boden, aber seine Hände wären nach unten gesunken und lagen nun flach auf den Oberschenkeln. Dabei starrte er ins Leere und schüttelte einige Male den Kopf.
Suko war nach vorn gegangen, um sich die Reste des Baums anzuschauen. Ich wäre ihm gern gefolgt, aber Doug Kinny bat mich, bei ihm zu bleiben. Als er sich erheben wollte, reichte ich ihm die Hand. Er nahm sie dankbar als Stütze an und blieb neben mir stehen, wobei er nach Atem rang und auch etwas verlegen aussah. Er suchte nach Worten, schüttelte den Kopf und begann mit einer Entschuldigung, die ich nicht hören wollte und ihn deshalb
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