1008 - Endloser Schrecken
damals so gern gehabt hätte, sie aber nicht bekommen hat. Er war nicht würdig. Du bist es, John, aber ich werde die Waffe führen. Tritt zur Seite!«
Ich tat, was sie wollte.
Neben der ersten Bank blieb ich stehen. Ich wußte auch nicht, was ich sagen oder unternehmen sollte. Mein Kopf bewegte sich.
Zwangsläufig schaute ich dabei zum Eingang hin, wo sich etwas verändert hatte. All meine Freunde hatten die Leichenhalle betreten, um Zeuge der letzten Abrechnung zu werden, die Donata übernommen hatte.
Donata war in der unmittelbaren Nähe des Sargs geblieben. Sie schaute auf den Toten, als wollte sie ihn mit Blicken regelrecht sezieren.
Dann senkte auch sie die Waffe. So ähnlich, wie ich es getan hatte, und ich rechnete auch damit, daß sie in die Brust meines toten Vaters eindringen würde. Donata aber hatte etwas anderes vor. Sie war stark, und sie konnte die schwere Waffe schwingen wie ein Pendel.
So ähnlich ließ sie die Spitze über »meinem« Gesicht kreisen, wobei die feinstoffliche Gestalt aus dem Jenseits ungewöhnlich klingende und zischende Worte sprach, die eigentlich nur eine Beschwörung sein konnten.
Sie wollte etwas haben. Sie wollte etwas erreichen, und sie kam tatsächlich zum Ziel.
Der Mund meines Vaters sah geschlossen aus, aber er mußte spaltbreit offen stehen, sonst wäre nicht dieser ungewöhnliche Nebel aus ihm hervorgequollen. Er drang aus den Nasenlöchern, war hell, war weiß und von braunen Schlieren durchzogen, als er sich in Richtung Decke bewegte.
Ich stand nur da und schaute zu. Dennoch war ich in diesen unheimlichen Vorgang integriert, weil ich genau spürte, daß etwas mit meinem Gesicht passierte.
Zuerst streiften Hände über die Haut hinweg. Sanfte Finger, die ich nicht zu Gesicht bekam, die aber trotzdem einen gewissen Druck ausübten und deshalb stärker zu spüren waren. Sie preßten sich leicht gegen meine Haut, und ich spürte das Brennen, als hätten sie Säure abgelassen.
Etwas passierte mit meinem Gesicht. Es kratzte, es brannte, es schabte eine andere Kraft darüber hinweg. Meine Haut zog sich zusammen und wurde einen Moment später wieder auseinandergerissen. Etwas, das versteckt zu liegen schien, drückte sich wieder nach vorn, damit andere Konturen entstehen konnten.
Plötzlich schöpfte ich wieder Hoffnung. Es war schwer für mich, auf den Beinen zu stehen. Ich fiel um und hatte Glück, daß ich dabei auf die Bankreihe prallte.
Auch von hier aus konnte ich in den offenen Sarg hineinschauen.
Ich sah meinen Vater und dessen Gesicht.
Ja, nicht mehr meines!
Es war sein Gesicht. Oder fast. Noch befand es sich in der Verwandlung. Zwei hatten sich aufeinander zugeschoben, aber eines konnte nur gewinnen.
Das war sein Gesicht.
Sein echtes Gesicht.
Und der gleiche Vorgang lief bei mir ab. Ich wußte es genau, obwohl ich keinen Spiegel besaß, in den ich schaute. Das mußte einfach so sein, ich war wieder dabei, mich zu verändern.
Über dem Sarg schwebte die Gestalt!
Nein, die Wolke. Nicht mehr nur hell, die braune Farbe, wie ich sie ja von den Augen meines Vaters her kannte, hatte sich verdichtet, und es war ein Gesicht entstanden.
Lalibelas Geist!
Gegen den der Donata!
Sie hielt ihm das Schwert entgegen, sie sprach auch mit ihm, und ihre Worte waren in einer Sprache gesprochen, die ich nicht verstand. Sie war mir zu fremd, wahrscheinlich gehörte sie ins alte Äthiopien. Donata redete auch nicht normal mit ihm. Sie beschwor ihn, sie traf ihn hart mit den Worten; sein Gesicht verzerrte sich immer mehr. Es wurde zu einer breiten Fratze mit einem klaffenden Maul und großen, glotzenden Augen.
Es mußte um das Schwert gehen, das auch Lalibela gern gehabt hätte. Aber er bekam es nicht. Donata bedrohte ihn damit, und plötzlich reckte sie sich und stieß die Klinge in die Höhe, geradewegs in die häßliche Fratze hinein.
Drei Dinge geschahen zugleich.
Einmal veränderte sich auch der letzte Rest im Gesicht meines Vaters. Es nahm wieder seinen alten Ausdruck an. Er lag im Sarg, wie ich ihn kannte.
Und auch über mein Gesicht rann ein Brennen. Die Haut zog sich zusammen. Dann verschwanden die ziehenden Schmerzen, als hätte etwas Unheimliches und nicht Erklärbares meinen Körper verlassen.
Mein Vater war wieder normal.
War ich es auch?
Ich wurde von der dritten Reaktion abgelenkt, und sie hatte etwas mit Lalibela zu tun.
Der Geist des alten Königs hatte diesen Schwertstreich nicht überstanden. Die positive Macht der Waffe war dabei, ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher