109 - Der Werwolf und die weiße Frau
mich und stolzierte hocherhobenen Hauptes aus dem Rittersaal.
Mein Abgang war aber so gar nicht nach Tirsos Geschmack. Ich paßte höllisch auf und machte nur ganz kleine Schritte. Erst als ich die Tür erreicht hatte, machte ich einen größeren, den ich aber besser hätte bleiben lassen sollen. Ich stolperte und fiel hin.
Wütend blickte ich meine Schuhe an. Tirso hatte - unbemerkt von mir - die Schuhsenkel geöffnet und die beiden Schuhe zusammengebunden. Innerhalb weniger Sekunden löste sich der Knoten wieder, und ich stand auf. Ohne etwas zu sagen, verließ ich den Raum. Zornig stürmte ich in mein Zimmer, genehmigte mir einen Bourbon mit viel Eis und rauchte eine Zigarette.
Juttas Schläfen pochten, als sie erwachte. Langsam öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Es war heller im Zimmer. Ihr Blick fiel auf die Kuckucksuhr: Fünf Minuten nach sieben.
Ihre Eltern schliefen noch immer. Langsam erinnerte sie sich, was vergangene Nacht geschehen war. Sie hob den rechten Arm, der nicht mehr schmerzte. Verwundert schüttelte sie den Kopf. Die Schwellung am Oberarm war verschwunden. Auch von der Bißwunde des Wolfes war nichts mehr zu sehen. Hatte sie die Ereignisse der letzten Nacht nur geträumt? Die Verwüstung im Wohnzimmer und ihre zerfetzte Bluse sprachen aber dagegen.
Nein, ich habe es nicht geträumt, dachte Jutta.
Ihr war schwindelig, und sie hatte entsetzlichen Durst. Sie wankte in die Küche und trank zwei Gläser Wasser. Noch immer ganz benommen, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, setzte sich zu ihrer Mutter auf die Couch und rüttelte sie leicht.
Ihre Mutter schnaubte, dann schlug sie die Augen auf, blickte Jutta überrascht an und richtete sich auf. Als sie die Verwüstung im Zimmer sah, wurden ihre Augen groß.
„Die Wölfe", flüsterte Grete Hauser. „Wo ist Bert?"
„Vater liegt vor dem Fernsehapparat", antwortete Jutta.
Grete Hauser stand auf. Sie stützte sich dabei auf ihre Tochter.
„Bett", sagte sie mit krächzender Stimme.
Vor ihrem Mann blieb sie stehen. Sein Hemd war zerrissen, der rechte Ärmel war blutig.
„Er lebt", sagte Grete erleichtert und schloß die Augen.
Sie war fünfunddreißig, sah aber viel jünger aus. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war überraschend. Es war schon oft vorgekommen, daß man die beiden nicht für Mutter und Tochter gehalten, sondern geglaubt hatte, sie seien Schwestern.
Grete kniete neben ihrem Mann nieder. Er war vierzig Jahre alt. Sein leicht gewelltes, dunkles Haar war von einigen grauen Strähnen durchzogen. Sein Gesicht mit dem buschigen Oberlippenbart war unnatürlich bleich. Sanft tätschelte sie die Wangen ihres Mahn, der aber nicht erwachte. Er stöhnte leicht im Schlaf und versuchte ihre Hände fortzuschieben.
„Aufwachen, Bert!" drängte Grete. „So wach doch endlich auf!"
Jutta hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. Sie fühlte sich schwach; so schwach hatte sie sich roch nie zuvor in ihrem Leben gefühlt; und ihr war heiß. Ihr Körper schien zu glühen. Schweiß tropfte über ihre Stirn.
„Bert, wach auf! Ich flehe dich an, wach endlich auf!"
Die Stimme ihrer Mutter schien aus unendlich weiter Ferne zu kommen. Sie war kaum zu hören. Jutta schlief wieder ein.
Grete stand auf und blieb schwankend stehen. Sie holte ein feuchtes Tuch und strich damit über das Gesicht ihres Mannes. Endlich schlug er die Augen auf, gähnte, wälzte sich auf die Seite und schlief weiter.
Ich muß den Arzt verständigen, dachte Grete Hauser.
Jeder Schritt bereitete ihr Mühe. Einmal lehnte sie sich kurz an einen Türstock, dann setzte sie sich ans Telefon in der Diele, hob den Hörer ab und wählte die Nummer des Arztes. Sie ließ es mindestens zehnmal läuten, doch niemand nahm ab. Vielleicht habe ich mich verwählt, dachte sie und versuchte es nochmals. Wieder ohne Erfolg.
Grete runzelte die Stirn. Das war äußerst merkwürdig. Wenn schon Dr. Martens nicht zu Hause war, dann würden sicher seine Frau oder die Sprechstundenhilfe an den Apparat gehen.
Das Haus des Arztes war nur drei Kilometer entfernt. Grete überlegte, ob sie hinüberfahren sollte, doch sie war einfach zu schwach dazu.
Mit zittrigen Händen zündete sie sich eine Zigarette an. Sie war von einem Wolf überfallen worden. Ganz deutlich konnte sie sich daran erinnern. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann im Wohnzimmer gesessen, und sie hatten sich einen uralten Film im Fernsehen angeschaut, den sie gemeinsam vor fast zwanzig Jahren schon einmal im Kino gesehen hatten. Sie
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