Umwege zum Glück
Eilbrief aus Wien
Es war Donnerstag, neunzehn Uhr einundzwanzig.
Ich hatte meine Bücher weggeschoben und mein Portemonnaie umgestülpt. Vor mir lag die Summe, die mich bis zum Monatsende am Leben erhalten sollte.
Ich fing an zu zählen. Es war eine leichte Arbeit.
In der Schule war ich schon im Rechnen schwach gewesen. Kein Wunder, daß ich dann in der Mathematik noch sehr viel schwächer war. Und noch weniger ein Wunder, daß ich deswegen durchs Abitur rasselte. Nur mit vielen Nachhilfestunden klappte es beim zweiten Anlauf.
Trotzdem kostete es mich in diesem Augenblick wenig Mühe, meine Vermögensverhältnisse zu überblicken: Ich kam auf dreiundzwanzig Mark vierzehn Pfennige.
Wo in aller Welt war das Geld bloß geblieben? Mein Monatswechsel war gar nicht schlecht. Ich hatte hundert Mark mehr als meine Freundin Jessica, und trotzdem hatte sie immer noch Geld, wenn ich gegen Monatsende pleite war.
Dabei war es noch nicht Monatsende! Es war genau gesagt der Zwanzigste. Also, zehn Tage sollte ich nun von meinen dreiundzwanzig Mark leben. Das konnte ja heiter werden!
Die Miete überwies Vati klug genug direkt an Frau Hansen. Die Mensamarken kaufte ich immer sofort, wenn ich Geld bekommen hatte, das hatte ich meinen Eltern auf Ehrenwort versprechen müssen. Also hatte ich ein Dach über dem Kopf und das tägliche Mittagessen. Alles andere mußte ich mit Hilfe der dreiundzwanzig Mark schaffen. Wo war nur das Geld geblieben?
Ja, da waren nun die schönen, langen Stiefel. Natürlich waren sie teuer gewesen, aber so todschick! Ich hätte sie vielleicht entbehren können, ich hatte Schuhzeug genug, aber sie hatten mich so angelächelt aus dem Schaufenster.
Dann war all das Obst, das ich gekauft hatte – an dem Abend, als Jessica und ihr Freund hier waren.
Dann die vielen Schokoladetafeln. Wenn ich es mir überlegte, waren es sehr viele gewesen. Beinahe eine Mark pro Tag nur für Schokolade.
Reni Thams, sagte ich zu mir selbst, hier muß was geschehen. Du bist ein leichtsinniges Huhn, du hast keine Ahnung von vernünftigem Wirtschaften. Denk an Madeleine!
An Madeleine dachte ich sowieso oft. Madeleine ist meine ältere Schwester. Ihre Mutter heiratete meinen Vater, Madeleine war damals achtzehn und ich siebzehn. Es dauerte nicht lange, dann waren wir dicke Freundinnen und fühlten uns unbedingt als Schwestern. Und das, obwohl wir ganz verschieden sind. Madeleine ist hübsch, und was bin ich? Ich bin über und über mit Sommersprossen dekoriert. „Wenn du noch eine einzige Sommersprosse mehr gehabt hättest, wärest du braun“, sagte einmal mein Freund Uwe. Mein Mund ist viel zu groß. „Den brauchst du“, sagte Uwe. „Ein kleinerer würde heißlaufen bei deinem Dauerplaudern.“ Meine Haare sind – ja was sind sie? Meine Freunde sagen rotblond, ein paar weniger nette Menschen zu Hause in Hirschbüttel sagen „die freche rothaarige Tochter von Direktor Thams“.
Madeleine ist vernünftig und begabt. Ich bin – so sagen meine Eltern – unvernünftig, und was die Begabung betrifft – nun ja, es gibt Bereiche, wo ich vollkommen, hoffnungslos unbegabt bin. Zum Beispiel Kochen und Handarbeit und Mathematik. Andrerseits war es die Meinung der gesamten Familie, daß meine Veranlagung mich dazu berechtigte, Medizin zu studieren. Ich interessiere mich für die Ärztekunst. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es müßte was Wunderbares sein, kranken Menschen helfen zu können und vielleicht sogar Menschenleben zu retten.
Vorläufig war ich allerdings nicht imstande, ein Menschenleben zu retten, es sei denn einen Ertrinkenden, denn schwimmen kann ich sehr gut, und außerdem habe ich die Rettungstechnik gelernt.
Das wäre aber auch das einzige, was ich in puncto Lebenretten tun könnte, vorläufig. Denn ich war vorerst im ersten Semester und sehr damit beschäftigt, die menschlichen Körperteile auseinanderzuhalten und ihre lateinischen Benennungen zu lernen.
Zum Beispiel hätte ich an diesem Abend die Knöchel der menschlichen Hand schön pauken müssen, aber meine finanzielle Situation wirkte sehr ablenkend. Es war wirklich verflixt! Natürlich könnte ich Papa um mehr Geld bitten, ich würde es auch bekommen; aber es war Ehrensache für mich zu zeigen, daß ich nach dem aufgestellten Plan – von meinen klugen und wirklich großzügigen Eltern ausgeklügelt – leben konnte.
Der Plan umfaßte auch Kleidung, aber nicht Stiefel für 130 Mark! Er umfaßte „ein bißchen Naschen“, aber nicht
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