109 - Der Werwolf und die weiße Frau
schloß die Augen. Alles drehte sich um sie herum.
Einige Minuten blieb sie ruhig stehen, dann hob sie das Fahrrad auf und schob es vor sich her. Aufsteigen wollte sie nicht. Der Schmerz in ihrem Oberarm breitete sich rasch weiter aus. Jede Bewegung fiel ihr schwer.
Sie war froh, als sie den Wald hinter, sich gelassen hatte. Nur noch eine sanft ansteigende Wiese mußte sie überqueren, dann hatte sie das Haus ihrer Eltern erreicht.
Das Fahrrad wurde ihr zu schwer. Sie ließ es einfach fallen und taumelte über die Wiese. Jetzt schmerzte auch ihr rechter Unterarm, und sie hatte rasende Kopfschmerzen, die ihr die Tränen in die Augen trieben.
Jutta wußte nicht, wie sie das Haus erreicht hatte. Sie wunderte sich auch nicht, daß die Eingangstür weit offenstand: Sie wankte die Stufen hoch und torkelte in die Diele. Vor dem Spiegel blieb sie einen Augenblick stehen. Ihr schulterlanges blondes Haar war feucht, das Gesicht schmutzig. Die weiße Bluse war voll Blut, und der Oberarm schillerte bläulich.
Das Mädchen klammerte sich an einem Türstock fest. Ihr wurde übel. Mühsam unterdrückte sie den Brechreiz. Schweratmend trat sie ins Wohnzimmer.
Der runde Tisch und zwei Stühle waren umgeworfen worden. Juttas Mutter lag bewußtlos auf der Couch. Ihr Kleid war über der Brust zerrissen, und ihr linker Oberarm wies einen Wolfsbiß auf. „Ma", sagte Jutta leise und kam näher. „Ma!"
Doch ihre Mutter bewegte sich nicht. Jutta stolperte über den Teppich und fiel der Länge nach hin. Wenige Sekunden später versuchte sie aufzustehen, doch sie war zu schwach dazu. Einen Augenblick hob sie den Kopf und sah ihren Vater, der ebenfalls von den Wölfen angefallen worden war; er lag vor dem Fernsehapparat.
„Vater", flüsterte Jutta, dann schloß sie die Augen und wurde bewußtlos.
Drei Monate waren seit dem Tod des Schwarzen Samurais vergangen; drei Monate, in denen sich nichts ereignet hatte.
Mir war es mittels meines Ys-Spiegels gelungen, das Tor zu verschütten, durch das die Janusköpfe zur Erde gelangt waren. Aber deshalb war die Gefahr nicht gebannt, die von den Janusköpfen drohte. Ich konnte nur hoffen, daß es den Janusköpfen nicht so rasch gelang, ein neues Tor zu unserer Welt zu bauen. Wenn ich daran dachte, daß Olivaro quasi der gute Hirte seines Volkes war, dann konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie die anderen waren.
Von Luguri hatte ich auch schon lange nichts mehr gehört. Das neue Oberhaupt der Schwarzen Familie hatte sich irgendwohin zurückgezogen und brütete sicherlich neue Teufeleien aus.
Nachdem ich Hermes Trismegistos Macht angetreten hatte, war ich hauptsächlich in der Maske Richard Steiners aufgetreten. Der Dämonenkiller Dorian Hunter war für die Welt tot; nur meine Gefährtin Coco Zamis, Unga, Don Chapman und Dula wußten, daß ich lebte. Anfangs war es mir als eine gute Idee vorgekommen, in der Maske Rudolf Steiners aufzutreten, doch jetzt wurde mir diese Gestalt immer lästiger. Ich war zwar so groß wie Dorian Hunter und auch so alt, aber sonst unterschied sich Richard Steiner grundlegend vom Dämonenkiller, der ich einmal gewesen war.
Mein Körper war dünn - fast dürr. Steiner hatte ein blassen Teint, Sommersprossen und eine brandrote Haarmähne; das Gesicht war schmal, die Stirn hoch, und dazu trug er noch eine Nickelbrille, die aus einem Museum zu stammen schien. Ich mußte bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten als ängstlicher Tolpatsch erscheinen, der sogar gelegentlich rot wurde. Mit einem Wort - ich war zu einem Feigling geworden; eine Rolle, die mir so gar nicht behagte.
Das waren aber nicht die einzigen Schwierigkeiten. Vor allem mußte ich befürchten, daß ich mich früher oder später verraten würde. Außerdem hatte ich vor Phillip, dem Hermaphroditen, Angst, denn ich war sicher, daß er wußte, wer sich hinter der Maske Richard Steiners verbarg. Irgendwann würde Phillip einmal eine Andeutung machen. Dazu kam noch Abi Flindt, der ständig hinter mir herschnüffelte. Er hatte sich in die fixe Idee verrannt, daß Coco und Richard Steiner den Dämonenkiller ermordet hatten..
Das Leben im Castillo Basajaun war äußerst langweilig. In den vergangenen Tagen waren Trevor Sullivan, dem Leiter der „Mystery Press", und Unga Meldungen zugegangen, wonach Luguri im Bayerischen Wald einen großen Coup planen sollte. Bei der nächsten Gelegenheit wollte ich nach Island springen und mich mit Unga darüber unterhalten.
Ich hatte allein sein wollen und einen
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