1180 - Der Drachenschatz
warum spürte ich diesen Hauch nicht? Warum »meldete« sich nur mein Kreuz? Konnte es sein, dass die Unsichtbaren Angst vor mir hatten?
Nein, nicht vor mir. Eher vor dem Kreuz, und deshalb schlugen sie ja auch diesen Bogen.
Ich wartete und ließ das Kreuz in meiner Tasche verschwinden. Viel würde das nicht bringen, weil es noch immer vorhanden war, aber nicht mehr so präsent.
Noah war sitzen geblieben. Seine Hand hatte er nicht mehr ausgestreckt, aber er folgte den unsichtbaren Wesen auf seine Art und Weise. Er verdrehte die Augen, um in verschiedene Richtungen zu schauen. Und ich konnte mitbekommen, wo er die anderen vermutete.
Es war spannend und unheimlich zugleich. Die Geräusche waren auf ein Minimum reduziert worden. Nicht nur Noah hielt den Atem an, auch ich.
Es reichte nicht mehr, wenn er den Kopf drehte. Er konnte ihn nicht wenden wie eine Eule. Um nach hinten zu schauen, musste er schon aufstehen und sich drehen.
Was er auch tat.
Noah erhob sich langsam. Sein Gesicht hätte auch aus Stein sein können, so starr war es. Ich ging näher an ihn heran, weil ich sah, wie sich seine Lippen bewegten. Ich wollte ihn verstehen, auch wenn seine Worte nur ein Raunen waren.
»Sie sind so nah.«
»Dann komm her!«
»Hinter mir! Ich spüre sie!«
Ich dachte an Russell, der eine so schreckliche Rückenwunde gehabt hatte.
»Komm endlich!«
Noah zögerte noch. Den Grund wusste ich nicht, aber ich wollte nicht, dass er noch in eine größere Gefahr geriet. Deshalb ging ich auf ihn zu. Ich hatte einfach das Gefühl, mich beeilen zu müssen, bekam ihn am rechten Arm zu packen und riss ihn vor.
Im letzten Augenblick.
Es gab ein leises Geräusch, das sich wie ein heftig ausgestoßener Atemzug anhörte.
In der gleichen Sekunde erschien wie aus dem Nichts der verdammte Säbel, dessen Spitze auf Noahs Rücken zielte…
***
Staunen!
Ja, es gab für Leon nichts anderes, als auf der Stelle zu stehen und zu staunen. Seine Augen waren weit aufgerissen. Er spürte den Druck der Hand nicht mehr, denn die Umgebung hatte ihn regelrecht gefangen genommen. Er wusste nicht, ob er damit gerechnet hatte. Zuletzt hatte er sich überhaupt keine Gedanken gemacht, aber sein Mund stand offen, obwohl er keinen Laut hervorbekam.
Es war kein weiter Weg gewesen. Überhaupt kein Weg. Nur ein Schritt, nicht mehr. Und jetzt das.
Er befand sich noch an der Drachenküste. Er sah das Meer. Er sah den Himmel und auch die Wellen, die an das Ufer geschleudert wurden. Jedoch mächtiger und härter. Ein wilder Sturm tobte, der auch ihn erfasste, aber seltsamerweise mehr an ihm vorbeiwehte.
Nur allmählich fand Leon wieder zu sich selbst. Er drehte sich herum, und während der Bewegung zog er seine Hand aus der seines neuen Freundes.
Joel schaute ihn an. Dabei nickte er. »Jetzt bist du bei mir, jetzt bist du in meiner Zeit…«
»Wieso denn?«
»Ich kann es dir nicht erklären. Aber finde dich damit ab.«
Leon strich über sein Gesicht. »Und was ist, wenn ich wieder in meine Zeit und mein Leben zurück will?«
Joel zuckte nur die Achseln. »Wir haben erst eine Stufe hinter uns«, sagte er. »Es gibt noch andere. Du wirst sie bestimmt erleben. Ja, du bist ausgesucht. Du hast es irgendwie schon immer gewusst. Deshalb bist du auch an die Küste gekommen. Die Drachenküste und der Drachenschatz«, sagte er.
»Meinst du die Goldmünze?«
»Nur ein kleiner Teil.«
Leon wusste, dass er keine genauere Antwort bekommen würde. »Und was machen wir jetzt?« Er hatte bewusst das Thema gewechselt.
»Wir werden gehen.«
»Wohin denn?«
»Lass dich überraschen.«
Leon sagte nichts mehr. Sein Verstand arbeitete normal, obwohl er sich in Sphären bewegte, die er nicht begriff. Er hatte sich noch nie mit Dimensionen auseinandergesetzt. Er hatte nicht einmal darüber nachgedacht, jetzt aber war er direkt ins kalte Wasser geworfen worden. Wo immer Joel mit ihm hingehen wollte, der Junge aus der Vergangenheit ließ sich Zeit, damit sich Leon an die neue alte - Umgebung gewöhnen konnte.
Er blickte sich um.
Es war die Drachenküste, auch wenn sie nicht im Detail so aussah, wie er sie kannte. Das Wasser rollte an, das Wasser fraß. Es nahm Land, es schluckte davon. Es brachte neue Massen heran, aber die alten blieben, nur veränderten sie sich. Waren die Dünen nicht höher? War der Strand nicht breiter und tiefer?
Er sah Treibgut.
Schiffsplanken. Manche, die dicht am Wasser lagen, waren noch feucht, andere wieder völlig ausgebleicht wie alte
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