0987 - Das Seelenloch
Niemand war um diese Zeit unterwegs. Die Besucher und Einheimischen lagen in den Betten. In Lech erholte man sich. Da stand man früh auf und ging auch früh zu Bett.
Der Ort war leer - bis auf eine Gestalt, der diese Leere sehr entgegenkam. Sie konnte die Dunkelheit als Verbündeten nutzen, und sie war durch Lech geschlichen wie ein Schatten.
Jede finstere Insel ausnutzend, das Licht vermeidend. Kaum ein Geräusch war zu hören. Die Schritte vorsichtig gesetzt, schleichend, dann weg aus dem Bereich der Häuser und hinein in die Berge.
Es war ein Weg in die Leere, in die Natur, die auch jetzt, tief in der Nacht, noch ihre Schatten warf.
So zeichnete sich die Umgebung nur schwach ab, wie zum Beispiel die helleren Wege, die sich in das Gelände hineinschoben.
Sie ringelten sich an den Flanken der Berge hoch, hörten aber an bestimmten Stellen auf.
Die Gestalt nahm einen dieser Wege, um sein Ziel auf dem direkten Weg zu erreichen. Er hätte auch die Pfade der Wanderer gehen können. Es war ihr zu umständlich, sie wollte so rasch wie möglich zu dem Haus gelangen.
Die Nacht war kalt geworden. Vor den Lippen des einsamen Wanderers kondensierte der Atem zu dunstigen Fahnen, die sehr schnell wieder zerflatterten.
Nachdem die Gestalt eine gewisse Höhe erreicht hatte, ging sie schneller und auch gebückter, was einzig und allein an der Steilheit des Geländes lag. Sie mußte sich anstrengen, um die Höhenmeter zu überwinden, aber das machte ihr nichts aus.
Eingehüllt in einen dunklen Mantel unterschied sie sich so gut wie nicht von der normalen, starren Umgebung. Manchmal bewegte sich der Läufer auch am Rand eines kleinen Waldes entlang, bevor er schließlich den normalen Weg verließ und quer über die Almen huschte.
Der nächtliche Wanderer versuchte in der Finsternis die Gipfel der Berge auszumachen.
Sein Ziel lag tiefer, viel tiefer. Es war mit der Einsamkeit der Umgebung verwachsen. Ein Haus, eine kleine Insel, die vergessen schien, aber dennoch bewohnt war.
Der Mann kicherte, als er daran dachte. Er wurde plötzlich nervös und bewegte sich hektischer, ohne allerdings seine Wanderung zu unterbrechen. Mit seinen flachen Händen strich er hin und wieder an den Seiten des Mantels entlang und nickte zufrieden, wenn er in der rechten Tasche die Umrisse der Waffe spürte.
Sie war lang, sie war schmal, und er war damit zufrieden, daß er sie eingesteckt hatte.
Er ging noch zügiger.
Nirgendwo hörte er ein fremdes Geräusch. Die schon absolute Stille wurde einzig und allein durch ihn unterbrochen. Den Kragen des Mantels hatte er hochgestellt, so war von seinem Hals so gut wie nichts zu sehen, und nur das Gesicht erinnerte an einen teigigen Flecken.
An einer besonders steilen Stelle mußte er sich nach vorn drücken und die Hände zu Hilfe nehmen, um nicht abzurutschen, denn das Gras war feucht geworden. Es glitt durch seine Finger, und der Mann griff immer wieder danach.
Aber er überwand den Anstieg ohne große Probleme und erreichte einen schmalen Pfad.
An seinem Beginn blieb er stehen und schaute in die Höhe. Er verfolgte den Verlauf des Pfads. Er sah ihn wie eine dunkle Schlange, die sich in den Untergrund hineingefressen hatte, und er entdeckte auch das Ende, denn dort lag sein Ziel.
Nur beim genauen Hinsehen war es zu erkennen. Für ein ungeübtes Auge so gut wie kaum, aber das kam für die einsame Gestalt nicht in Frage. Sie wußte, wohin sie mußte, und sehr deutlich sah sie die beiden Schatten, von denen der eine den anderen überragte.
Der höhere gehörte einer kleinen Kapelle. Sie stand direkt neben der Almhütte und war mit wenigen Schritten zu erreichen. Der Mann duckte sich unwillkürlich, als er an die Kapelle dachte und daran, was dort untergebracht war. Etwas, das er nicht mochte und bis auf den Grund haßte.
Nur würde er sich trotzdem nicht davon abhalten lassen, weiterzugehen. Er mußte es tun. Es war seine Pflicht, und sollte sich ihm jemand in den Weg stellen, würde er keine Gnade kennen. Niemand sollte ihn aufhalten, wirklich niemand.
So ging er weiter.
Jetzt mit noch mehr Schwung. Es sah aus, als hätte er wieder neue Kraft geschöpft. Und es war auch niemand da, der ihn störte oder sich ihm in den Weg stellte. Keiner kam von oben, niemand näherte sich ihm von der Seite, es ging alles wunderbar, als hätte er es sich selbst geschaffen.
Seine Schritte wurden länger, kräftiger. Oft genug zerknirschten kleine Steine unter den Sohlen. Der Mantel war feucht geworden. Er
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