120, rue de la Gare
gerne die Wiege der guten Frau besichtigen, und da es ein so schöner Tag sei, na ja, jedenfalls etwas weniger neblig...
Im Büro war man einverstanden. Ohne Schwierigkeiten erhielt ich die Erlaubnis, durch die Rhônestadt zu schlurfen.
Meine Uniform hatte schon durch Krieg und Gefangenschaft sehr gelitten. Durch meine Zirkusnummer war ihr der Gnadenstoß versetzt worden. Der Anzug, der mir als Kriegsheimkehrer zustand, schien nach Maß geschneidert; es fehlten nur zehn Zentimeter.
So herausgeputzt, ging ich in Richtung Place Bellecour.
Mein Kindermädchen stammte nicht aus Lyon. Aus dem einfachen Grund, weil ich gar kein Kindermädchen gehabt hatte. Und ich mußte mich auch nicht mit der Stadt vertraut machen. Ich kannte sie in- und auswendig, weil ich mit zwanzig, zweiundzwanzig Jahren hier ohne einen Sou in der Tasche herumgelatscht war.
Gerührt sah ich die Avenue de la République, dann, auf der Höhe der Statue von Carnot, die kleinen Passagen und in einer von ihnen den berühmten Kasper. Irgendwo in diesem Labyrinth hatte sich damals ein kleines Bistro befunden, aus dem man mich mit Schimpf und Schande rausgeschmissen hatte, weil ich meinen Portwein-Flip nicht bezahlen konnte.
Pfeiferauchend suchte ich jetzt dieses Bistro... falls es überhaupt noch existierte.
Ich hatte unverschämtes Glück. Zuerst sah ich an einem Zeitungskiosk, daß der Crépuscule sich nach Lyon abgesetzt hatte. Ich kaufte ein Exemplar, um zu sehen, ob Marc Covet sein Blatt hierherbegleitet hatte. Ja, hatte er. Auf der zweiten Seite stand sein Name unter einem dieser verworrenen Artikel, die für ihn so typisch waren. Dann fand ich auch das Bistro. Der Name hatte nicht gewechselt, die Einrichtung nicht und auch der patron nicht. War wenigstens der Staub neu? Nein, er schien auch noch derselbe wie damals. Schließlich sah ich, auf einem hohen Barhocker, Marc Covet persönlich mit seiner roten Nase und den wäßrigen Augen. Er spielte gerade mit einem Kollegen Würfelpoker.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er drehte sich um und brüllte überrascht auf. Bevor er sich wieder erholt hatte, sagte ich augenzwinkernd:
„Na, erkennst du den alten Pierre nicht wieder?“
„Pi... Pierre!“ stammelte er. „Ach ja, Pierre Kiroul?“
Er lachte schallend.
„Pierre Kiroul, genau“, sagte ich.
Marc Covet warf die Würfel in den Becher und knallte ihn auf die Theke.
„Ich hör auf“, sagte er zu seinem Kollegen. „Muß mit meinem Freund über Frankreich reden. Sie haben die Runde gewonnen!“ Er nahm meinen Arm und schob mich zu einem Tisch hinten im Raum.
„Was trinkst du?“ fragte er.
„Einen Saft“, antwortete ich.
„Ich ein Bier.“
Ein lässiger Kellner brachte uns die Getränke. (Nein, nicht der, der mich vor mehreren Jahren rausgeschmissen hatte!) Marc Covet zeigte auf meinen Ananassaft.
„Colos Tod hat Ihnen wohl einen ziemlichen Schock versetzt“, bemerkte er.
„Das kommt vom Sauerstoffmangel. Aber Sie haben recht, die Geschichte hat mich umgehaun. Wissen Sie, mit wem er am Zugfenster gesprochen hat, bevor er abgeknallt wurde?“
Der Journalist schlug auf den Tisch und fluchte:
„Verdammt, dann waren Sie es auch, der..
„Ja, der war ich auch. Eine alte Zirkusnummer von mir. Ich möchte Sie nur bitten, diese Information für sich zu behalten.“
„Selbstverständlich. Sie glauben doch wohl nicht, daß ich das einem Konkurrenten erzählen werde...“
„Stellen Sie sich nicht blöder, als Sie sind, Marc. Ich meine damit, daß das niemand erfahren darf, weder die vom Paris-Soir noch die vom Crépu. Das muß unter uns bleiben. Kapiert? ... Vielleicht... später...“
Es juckte ihm sichtlich im Füllfederhalter. Doch er versprach mir bereitwillig, ihn nicht anzurühren. Nachdem das geregelt war, fragte ich:
„Haben Sie Colomer in der letzten Zeit gesehen?“
„Ja, hin und wieder.“
„Womit wai er beschäftigt?“
„Keine Ahnung. Sah jedenfalls nicht reich aus.“
„Hat er Sie angepumpt?“
„Nein, aber er wohnte...“
„...in der Rue de la Monnaie, ich weiß. Liegt nicht grade im vornehmsten Viertel, aber das will nichts heißen. Hat er als Detektiv gearbeitet?“
„Ich sag Ihnen doch, ich hab keine Ahnung. Wir kannten uns kaum. Haben uns vielleicht viermal in der ganzen Zeit gesehen.“
„Sie können mir nicht sagen, mit wem er befreundet war?“
„Nein. Wenn ich ihn getroffen habe, war er allein.“
„Keine Frau?“
„Nein, keine... Ach, das ist ja komisch... Nein, keine
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