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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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waren an Edouard adressiert, genauer gesagt, an die Militärhospitäler in diesen Städten. Ich bat den Rothaarigen, mir so schnell wie möglich meinen Koffer zu schicken, den ich im Gepäcknetz liegengelassen hatte. Die Interzonenkarte war für meine Concierge bestimmt.
    Mein Bettnachbar wollte gerade aus seiner Zeitung einen Papierhut machen. Ich bat ihn — schreiend, denn er war fast taub — , mir das Blatt rüberzureichen. Die blutigen Ereignisse, mit denen mich Frankreich empfangen hatte, wurden unten auf der ersten Seite kurz geschildert, unter „Nach Redaktionsschluß“:

    TRAGÖDIE AUF DEM BAHNHOF VON PERRACHE

    Gestern nacht, als ein Zug mit verwundeten Kriegsgefangenen aus Deutschland Perrache in Richtung Süden verließ, wo sich die Kameraden von den Entbehrungen der Gefangenschaft erholen sollen, wurde Robert Colomer, 35 , wohnhaft in Lyon, 40, rue de la Monnaie, durch Revolverschüsse getötet, während er sich mit einem ehemaligen Gefangenen unterhielt.
    Das Opfer, ein Agent von Fiat Lux, der Pariser Detektei des berühmten Dynamit-Burma, war auf der Stelle tot. Die Durchsuchung der Leiche ergab keinerlei nützliche Hinweise für die Nachforschungen. Die Polizei führte sofort eine Razzia durch, bei der allerdings nur ein dem Geheimdienst bekannter politischer Agitator festgenommen und entwaffnet wurde. Weder am Tatort noch in der Bahnhofsgegend konnte ein Revolver gefunden werden. Außerdem...

    Im letzten Absatz schilderte der Journalist in bewegten Worten meinen Unfall, ohne meinen Namen zu erwähnen.
    Nach dem Mittagessen, als mir gerade die Zeit lang zu werden drohte, stürmte Kommissar Bernier in den Krankensaal. Sein wenig gesprächiger Vasall war auch wieder bei ihm. Er machte ein paar Notizen, ohne die Zähne auseinanderzukriegen.
    Bernier zeigte mir einen Satz Fotos von Colomer, um meinen Mitarbeiter endgültig zu identifizieren. Ich konnte ihm den Wunsch erfüllen. Dann nannte ich ihm noch drei Namen: Jean Figaret, Joseph Villebrun und Désiré Mailloche, genannt Dédé oder die Hyäne von Pigalle. Diesen drei hartgesottenen Ganoven hatten Bob und ich einige Jährchen Knast eingebrockt. Wenn ich mich nicht irrte, war der Bankräuber Villebrun letzten Oktober aus dem Zentralgefängnis von Nîmes entlassen worden.
    Der Kommissar bedankte sich. Ich sagte ihm noch, ich hätte beim Zeitungslesen erleichtert festgestellt, daß ich dort nicht im Mittelpunkt stand. Sicher hätte ich das der Eile zu verdanken, mit der der Artikel noch vor dem Umbruch geschrieben worden war, ich würde jedoch auch weiterhin auf Diskretion hoffen. Ich bräuchte Ruhe. Bernier versicherte mir, er werde dafür Sorge tragen, daß mein Name nicht genannt wurde.
    Die beiden Polizisten verabschiedeten sich. Mein Bettnachbar war zwar taub, aber nicht blind. Mitfühlend erkundigte er sich, was denn die beiden Flics von mir gewollt hätten. Ich antwortete, ich hätte einen Gerichtsvollzieher in Stücke gehackt, sei deshalb ein wenig durchgedreht und hätte jetzt jede Menge Ärger, aber Greta Garbo werde mich schon wieder rausholen.
    Da ich diese Erklärungen meinem tauben Bettnachbarn wieder zuschreien mußte, waren sie im ganzen Saal zu hören. Alle sahen mich aus weitaufgerissenen Augen etwas besorgt an. Die allgemeine Meinung war, daß die Gefangenschaft gelegentlich eine eigenartige Wirkung habe.
    Durch diesen Unsinn hatte ich nun völlige Ruhe. Niemand sprach mich mehr an. Da ich schon mal beim Film war, konnte ich meine Gedanken auf Michèle Hogan konzentrieren. Nicht auf die echte, sondern auf ihr Double: Die Frau, die eine Automatic in ihrer weißen Hand gehalten hatte, als Colomer auf den Bahnsteig gefallen war.
    War das eine Pistole Kaliber 32 gewesen?
    Wie ein Idiot stellte ich mir diese Frage, auf die ich im Augenblick keine Antwort wußte. Die Abendzeitung, die mir die Krankenschwester ans Bett brachte, berichtete, daß die Durchsuchung von Colomers Wohnung ergebnislos verlaufen sei. Weder seine Anzüge noch sein Koffer, der mit Kriminalromanen vollgestopft war, hatten irgendeinen Hinweis geliefert.

    * * *

    Zwei Tage hütete ich das Bett. Am dritten war ich wieder topfit. Mae West höchstpersönlich hätte mich nicht einschüchtern können.
    Ich begab mich in ein schlecht geheiztes Büro. Unter den nachsichtigen Augen eines Brillenträgers probierten gerade zwei blonde Tippsen neue Lippenstifte aus.
    Ich bat um die Erlaubnis, in die Stadt gehen zu dürfen. Mein Kindermädchen sei in Lyon geboren, und ich wolle

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