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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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tiefem Schlaf lagen. Der Lärm beim Überqueren der Eisenbahnbrücken war weithin zu hören, die Lokomotive spuckte Funken auf die watteweißen Schotterdämme.
    Nachdem wir mittags Konstanz verlassen hatten, rollten wir durch die verschneite Schweiz.
    Mit fünf weiteren Heimkehrern saß ich in einem Abteil der ersten Klasse. Vier von uns schliefen, so gut es ging. Der Fünfte, mein Gegenüber, ein Rothaariger namens Edouard, rauchte schweigend.
    Die Brotreste auf dem Tischchen, das wir herausgezogen hatten, zeugten von den zahlreichen kleinen Mahlzeiten, mit denen wir uns die Reise verkürzt hatten. Daneben lagen zwei Päckchen Tabak, aus denen ich mich bediente.
    Wir ratterten auf Neuchâtel zu, die letzte Station vor der Grenze.

    * * *

    Militärmusik riß mich aus meiner Benommenheit. Hörte sich an, als käme sie aus unserem Waggon. Vier meiner Kameraden drängten zur Tür. Edouard gähnte. Der Wagen rollte jetzt langsamer. Die Luft draußen war voller Rauch, Dampf, Zischen und Geschrei. Durch ein Rucken wurde ich halbwach. Ich versuchte aufzustehen. Ein zweites Rucken schleuderte mich gegen den Rothaarigen, dem ich eine hübsche Kopfnuß verpaßte. Jetzt war ich ganz wach. Der Zug stand still.
    Der riesige Bahnhof roch angenehm nach verbrannter Kohle. Junge Frauen vom Roten Kreuz gingen eilig zwischen den wartenden Menschen umher. In der kümmerlichen Beleuchtung sah ich Bajonette blinken. Soldaten der Ehrenwache präsentierten das Gewehr. Etwas weiter weg spielte eine Blaskapelle die Marseillaise.
    Wir waren in Lyon. Zwei Uhr nachts. Ich hatte einen trockenen Mund. Der Tabak aus Zürich, die Schokolade, die Würstchen und der Milchkaffee aus Neuchâtel, der Schaumwein aus Bellegarde und das Obst von überall her, all das bildete ein Gemisch, das nur außerhalb meines Magens aufgelöst werden konnte.
    „He, Baby, wie lange haben wir hier Aufenthalt?“
    Ein nettes Mädchen mit einer für meinen Geschmack etwas zu großen Nase schrieb Adressen, die ihr von den Heimkehrern genannt wurden, auf einen Block, um so schnell wie möglich den Verwandten die gute Nachricht zukommen zu lassen.
    „Eine Stunde“, antwortete sie.
    Edouard zündete sich die nächste Zigarette an.
    „Ich kenne Perrache wie meine Westentasche“, sagte er augenzwinkernd und verschwand in der Menge, Richtung Gepäckaufbewahrung.
    Der Rothaarige war ein gewitzter Bursche. Eine halbe Stunde später kam er mit zwei Literflaschen Wein wieder. Hier in der Gegend habe er jede Menge Freunde, versicherte er mir.
    Der Wein war nicht schlecht. Nur der Nachgeschmack glich dem des verdammten polnischen Tabaks, fand ich. Aber das lag vielleicht daran, daß ich in letzter Zeit nur Tee getrunken hatte. Zusammen mit dem Schaumwein aus Bellegarde wirkte das Zeug sehr schnell, und bald fühlten wir uns übermäßig zu dem weiblichen Element auf dem Bahnsteig hingezogen.
    Groß und schlank, ohne Hut, in einem Trenchcoat, in dessen Taschen sie ihre Hände vergraben hatte, wirkte sie seltsam einsam in der Menschenmenge, traumversunken. Sie stand neben dem Zeitungskiosk unter der Gaslaterne. Das blasse, verträumte Oval ihres Gesichtes wirkte verführerisch. In ihren hellen, wie von Tränen ausgespülten Augen spiegelte sich unsägliche Melancholie. Der scharfe Dezemberwind zerrte an ihren Haaren.
    Sie mochte zwanzig Jahre alt sein. Genau der geheimnisvolle Frauentyp, dem man ausschließlich auf Bahnhöfen begegnet. Nächtliche Phantasiebilder, die nur die Augen des müden Reisenden sehen können und die mit der sie erzeugenden Nacht wieder verschwinden.
    Wir erblickten sie gleichzeitig aus unserem Abteilfenster.
    „Verdammt, was für ein Weib“, sagte der Rothaarige und pfiff bewundernd durch die Zähne.
    „Verrückt, was?“ Er lachte. „Hab das Gefühl, sie schon irgendwo gesehen zu haben...“
    So verrückt war das gar nicht. Ich hatte dasselbe komische Gefühl. Das Mädchen schien mir nicht ganz unbekannt.
    Stirnrunzelnd dachte Edouard angestrengt nach. Seine Haare hatten schon seit vier Tagen keinen Kamm mehr gesehen. Plötzlich stieß er mir seinen Ellbogen vor die Brust. Seine Augen leuchteten vor Freude.
    „Ich hab’s!“ rief er. „Wußte doch, daß ich die Frau irgendwo gesehen hab. Im Kino, verdammt! Erkennst du sie nicht? Ein Filmstar ist das. Michèle Hogan!“
    Das einsame Mädchen in dem Trenchcoat hatte tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin aus Tempête . Aber sie war es natürlich nicht. Immerhin erklärte das,

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