Eine magische Begegnung
1. KAPITEL
“K önnen Sie wirklich mit Tieren sprechen?”
Übersetzung: Ich glaube nicht, dass Sie es können. Ich glaube auch nicht an Geister, Vampire oder den Bigfoot. Vom Märchen mit dem Weihnachtsmann ganz zu schweigen.
Von Erwachsenen war Lili Goodweather Skepsis gewohnt, aber nicht von einem zwölfjährigen Mädchen. Kinder besaßen die wunderbare Gabe, an das Unglaubliche zu glauben. Wenn es ihnen nicht schon frühzeitig ausgetrieben wurde … was ganz offensichtlich bei Erika Rutland der Fall gewesen war.
Die Kleine stand mit einem zitternden Tigerkater im Arm vor Lilis Tür. Hinter ihr – wie ein Schutzengel – ihr Großvater. Erika hatte blondes Haar, das ihr gerade über die Schultern fiel, und dunkle Schatten unter den blauen Augen, die einen starken Kontrast zum frischen Rosa ihrer kindlich unschuldigen Bäckchen darstellten. Ein Zeichen für eine Persönlichkeit vom Typ A, die mit psychischem Stress schwer umgehen konnte. Armes Kind.
Lili beschloss, sich die metaphysische Erklärung dafür, wie sie mit Tieren kommunizierte, für später aufzuheben. “Ja, kann ich.”
“Okay, da Sie also
behaupten
, es zu können … würden Sie auch versuchen, mit Fluffy zu sprechen?” Erika drückte den Kater fest an ihre Brust.
In dessen Augen waren die Pupillen so groß, dass die sonnenblumengelbe Iris beinahe nicht mehr zu sehen war. Die Haare am Rücken des Katers hatten sich vor lauter Zittern aufgestellt, wodurch das Fell flauschiger und dichter wirkte. Sein Körper war von einer schmutzig blauen Aura umgeben, die Lili an einen reißenden Fluss erinnerte.
“Natürlich versuche ich es.” Lili machte die Tür weit auf und ließ die beiden eintreten. Die warme Luft des Aprilnachmittags strömte ins Haus.
Roscoe Rutland – oder Rascally Rutland, der alte Schelm, wie ihn Wanetta genannt hatte – schüttelte ihr die Hand. “Herzlich willkommen und auf gute Naschbarschaft.”
Offiziell war sie erst vor fünf Tagen in Wanetta Crumps Haus gezogen, doch sie hatte Erika und ihren Großvater bereits bei ihren früheren Besuchen kennengelernt, als die alte Dame noch lebte.
Roscoes Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, doch es waren fröhliche Fältchen. Als hätte er die Jahre seines Lebens – Lili schätzte, dass es fünfundsechzig waren – genossen und immer gern und viel gelacht. Er schien auch zeitlebens ein sehr schlanker Mensch gewesen zu sein. Jemand, der aß, um zu leben – und nicht lebte, um zu essen.
Mit einem Blitzen in den Augen fügte er hinzu: “Und mein Sohn Tanner kann es gar nicht erwarten, Sie kennenzulernen.”
Lili hatte Erikas Vater, den mysteriösen Tanner Rutland, noch nie zu Gesicht bekommen. Gut, vielleicht war mysteriös nicht ganz das richtige Wort. Nicht mysteriös und unheimlich wie ein Axtmörder oder so. Er arbeitete einfach nur viel und schien nicht oft zu Hause zu sein. Lili hatte allerdings ihre Zweifel, ob Tanner Rutland tatsächlich Interesse bekundet hatte, sie kennenzulernen. Die Menschen sagten aus Höflichkeit oft genau das Gegenteil dessen, was sie meinten, und Roscoes enthusiastische Begrüßung klang ein bisschen überzogen.
Lilis langer, weiter Rock rauschte um ihre Beine, als sie ins Haus vorging. “Willkommen in meinem Heim.” Es war großartig, diesen Satz aussprechen zu können.
Als Roscoe eintrat, fiel sein Blick sofort auf den Boden, dessen schwarz-weißes Schachbrettmuster im Gegensatz zu früher – als der Boden immer nur Grau in Grau gewesen war – wieder deutlich hervortrat. “Sie haben das Haus wunderbar hergerichtet.”
“Vielen Dank.” Wanettas Haus war kurz nach 1900 gebaut worden, hatte eine große Terrasse mit einer Verandaschaukel, die an dicken Balken befestigt war, Fensterläden aus Holz und Mansardenfenster im winzigen Dachgeschoss. Im ersten Stock befanden sich ein Badezimmer mit einer gusseisernen, frei stehenden Wanne sowie drei Schlafzimmer, von denen Lili eines zu ihrem Arbeitszimmer umfunktioniert hatte. An regnerischen Winterabenden versprach es vor dem Kamin im Wohnzimmer traumhaft gemütlich zu sein, doch Lilis Lieblingsplatz war – trotz der altmodischen Ausstattung – die Küche. Sie saß oft an Wanettas großem Holztisch am Fenster und sah den Blauhähern draußen zu, wie sie einander zuzwitscherten und in der Erde nach Würmern pickten. Der Wald reichte fast bis zu ihrem Garten.
Es hatte eine ganze Woche gedauert, das Haus von oben bis unten gründlich zu putzen, doch nun war Lili fertig.
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