Der Skandal (German Edition)
PROLOG
Captain Ruth Muller hat die Hände auf dem Verhörtisch gefaltet und sieht Christina durchdringend an.
»Ich begreife es nicht, Andersson. Ich dachte, wir hätten uns verstanden. Und dann ziehen Sie los und machen die Sache auf eigene Faust.« Sie spricht in ihrem arrogant klingenden Bostoner Akzent.
Detective Christina Andersson blickt auf die Akte, die zwischen ihnen liegt. Sie weiß, was sie enthält, aber sie weiß nicht, was sie sagen soll. Die Medikamente, die sie ihr im Rettungswagen gegeben haben, hüllen sie in einen dichten Nebel, aus dem sich nur Captain Muller im engen dunklen Kostüm und die rote Akte hervorheben.
Noch nie ist ihr das Licht der Neonlampe im Verhörraum so grell vorgekommen. Sie hat auch noch nie auf der falschen Seite des Tischs gesessen.
Muller redet weiter in ihrer sachlich kühlen Art: »Sie sind impulsiv und unbeherrscht. Sie überlegen nicht, welche Konsequenzen Ihr Handeln hat. Und Sie haben sich mehrmals über meine Anweisungen hinweggesetzt – nun, ich habe Ihnen trotzdem vertraut.«
Christina sieht in Mullers perfekt geschminktes Gesicht, es zeigt keine Regung. Weder Empörung noch Verwunderung, weder Anteilnahme noch Wut, nichts, was darauf hindeuten könnte, dass sie seit zwei Jahren zusammenarbeiten. Sie hat Muller nie sonderlich sympathisch gefunden, aber sie hat ihre Hartnäckigkeit und Unnachgiebigkeit geschätzt. Und genau die werden Christina jetzt zum Verhängnis.
Muller schlägt die Akte auf und blättert darin. Christina will irgendetwas denken, aber es gelingt ihr nicht, ihr Kopf fühlt sich leer und dumpf an.
»Detective Andersson«, Mullers Blick kehrt zu Christina zurück, »was sehen Sie darauf? Sie haben doch sicher etwas vorzubringen zu Ihrer Verteidigung …« Ohne Christina aus den Augen zu lassen, schiebt sie ihr vier Fotos über den Tisch.
Christina weiß, auch ohne sie zu betrachten, was sie zeigen. Doch sie weiß nicht, wie es zu all dem gekommen ist.
Sie erinnert sich an den Augenblick, als der Cop auf sie zukam. Sie saß im Krankenwagen, und der Sanitäter stach ihr gerade eine Injektionsnadel in den Arm. Breitbeinig blieb der Cop vor ihr stehen. Er war dunkelhäutig und jung, und sie kannte ihn nicht.
Er sah auf sie herunter, dann auf den Ausweis in seiner Hand. »Detective Christina Andersson, sind Sie das?«
Der Sanitäter klebte ihr ein Pflaster auf den Arm.
»Ja«, antwortete sie, »aber halten Sie sich jetzt nicht mit mir auf! Ich bin okay. Wir suchen einen metallicroten Chevrolet Van. Habt ihr die Meldung nicht gekriegt?«
Anstatt zu antworten, wies der Cop mit einer knappen Kopfbewegung hinter sich. Der Widerschein der roten und blauen Sirenenlichter des Streifenwagens flackerte über die verfallenden Backsteinmauern der leer stehenden Fabrikgebäude des Third Ward Bezirks. Ihr silberfarbener Toyota stand quer auf der Straße.
»Haben Sie diesen Wagen gefahren, Detective Andersson?«
Die Fahrertür war tief eingedrückt, sie stand offen, der Kofferraum war hochgeklappt. Dort stand ein zweiter Polizist.
»Ja«, sagte sie. Er musterte sie. Sie hatte den Eindruck, dass er unsicher war. Vielleicht, weil sie auch ein Cop war? »Ich konnte das Kennzeichen nicht erkennen, es ging zu schnell.«
Sie konnte sich nur daran erinnern, dass von links etwas auf sie zugeschossen kam, es folgte ein fürchterlicher Knall, dann waren plötzlich alle Geräusche verstummt, und sie hatte verdammt keine Ahnung, wie sie es aus dem Auto geschafft hatte.
»Würden Sie mir bitte zu Ihrem Wagen folgen, Detective?«
Sie zog die Decke von den Schultern, die ihr einer der Sanitäter umgelegt hatte.
»Mein Funk ist kaputt«, sagte sie, »rufen Sie verflucht noch mal in der Zentrale an! Ich muss wissen, ob man den Wagen schon gefunden hat …«
»Zuerst zu Ihrem Auto, Detective.«
Sie bemerkte, wie seine Hand zum Waffenholster am Gürtel griff.
»Wo liegt das Problem?«, fragte sie, da hatten sie ihren Wagen erreicht.
»Es liegt hier.« Der Cop trat einen Schritt zurück.
Sie blickte in den Kofferraum.
Und dann leierte sein Kollege ihr ihre Rechte herunter …
Jetzt wartet Muller auf eine Erklärung. Aber Christina hat keine für das, was sie auf den Fotos von ihrem Kofferraum sieht.
»Wissen Sie, Andersson …« Muller beugt sich vor über den Tisch.
Christina riecht ihr Parfüm, es duftet nach Frühlingsblumen. Sie fragt sich, ob Muller es bewusst einsetzt, um in ihr die Sehnsucht nach Freiheit zu wecken. Sie traut Muller fast alles
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