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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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Büromenschen einfach vergessen. Der Mann ohne Gedächtnis war dazu verurteilt, weitere lange Wochen wie verloren auf den geharkten Wegen des Lazaretts spazierenzugehen.
    Es war November, und an Arbeit fehlte es nicht. Eines Tages rief ein Mann beim Anblick der Nummer 60202 mit heiserer Stimme:
    „Ach nee! Ist La Globule immer noch nicht zu Hause? Ganz schön beschissen für so einen Schlauberger!“
    Der Mann, den das so überraschte, war an der Hand verletzt. Klein, mit dem Gesicht eines Gauners, unfähig, ein Wort rauszubringen, ohne den Mund zu verziehen.
    „Ach, Bébert! Wie geht’s?“ fragte ich.
    „Könnte besser sein“, knurrte er und hielt die Hand mit dem Verband hoch. „Hab nur noch zwei Finger! Beinahe wär die ganze Hand dabei draufgegangen. Na ja…“
    Bébert war kein Jammerlappen. Mit einer neuen, wirklich sehenswerten Grimasse lachte er auf.
    „Hoffentlich ist damit die Heimreise garantiert“, sagte er. „Sonst muß ich auch noch auf blöd machen wie der Kerl da...“
    Ein paar Tage später wurde er tatsächlich ausgemustert und nach Frankreich geschickt. Ich begleitete den Transport von 1200 Verwundeten als Sanitäter. Auch die unglückliche Nummer 60 202 hätte dabeisein können, als wir das Stalag verließen. Aber seit zehn Tagen schon ruhte der Mann ohne Gedächtnis samt seinem Geheimnis neben dem Wäldchen in dem sandigen Heideboden, über den der Wind fegte.

    * * *

    Eines Abends nämlich... war ich nicht im Lager. Mit drei weiteren Sanitätern war ich zu einer anderen Kommandozentrale geschickt worden, um Verwundete zu holen. Als wir zurückkamen, erfuhr ich, daß ein böses Fieber plötzlich die 60202 erwischt hatte. Dorcières, Desiles und die anderen Ärzte erklärten sich außerstande, dem Mann helfen zu können.
    Eine Woche lag er auf Leben und Tod. Dann, an einem Freitag — der Wind heulte durch die Leitungsdrähte, ein saumäßiger Regen trommelte trostlos auf die Zinkdächer der Baracken — passierte es, sozusagen plötzlich und unerwartet.
    Ich hielt in dem Krankensaal Wache. Von dem Hexensabbat draußen abgesehen, war alles ruhig. Die Kranken schliefen sanft.
    „Burma!“ rief die 60 202 gleichzeitig herzzerreißend und triumphierend.
    Ich fuhr zusammen, weil ich begriff, daß jemand meinen Namen gerufen hatte, der zu guter Letzt wußte, was er sagte. Gegen die Vorschrift schaltete ich sofort das Hauptlicht ein und rannte zu ihm ans Bett. Aus den Augen des Gedächtnislosen leuchtete eine Wachheit, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte.
    „Sagen Sie Hélène... 120, rue de la Gare…“ hauchte er.
    Dann sank er auf den Strohsack zurück. Seine Stirn war schweißbedeckt, seine Zähne klapperten, sein blutleeres Gesicht war weißer als das Laken, auf dem es lag.
    „Paris?“ fragte ich.
    In seinem Blick flammte es noch einmal lebhaft auf. Ohne zu antworten, deutete er ein Nicken an. Dann starb er.
    Ich blieb eine Weile ratlos stehen. Schließlich merkte ich, daß Bébert neben mir stand. Er war von Anfang an dabeigewesen... und alles war so schnellgegangen!
    „Armer Kerl“, sagte Bébert. „Und ich hab ihn für einen Schauspieler gehalten!“
    Plötzlich ging mit mir eine seltsame Verwandlung vor. Die naive Rührseligkeit des Kameraden neben mir hatte mich von meiner eigenen befreit. Mit einem Mal war ich nicht mehr der Kriegsgefangene, dem die Stacheldrahtzäune jede Initiative genommen hatten, sondern Nestor Burma, der Chef der Agentur Fiat Lux, Dynamit-Burma.
    Froh, wieder in meine alte Haut geschlüpft zu sein, begann ich mit der Arbeit. Aus dem leeren Büro des Stabarztes holte ich mir ein Stempelkissen, ging damit zu dem Toten und nahm sorgfältig seine Fingerabdrücke ab. Bébert stand fassungslos dabei.
    „Du bist widerlich“, fauchte er verächtlich. „Schlimmer als ‘n Flic.“
    Ich lachte nur, sagte aber nichts. Dann schaltete ich das Licht aus. Im Trommelfeuer des Regens fing ich an zu träumen. Vielleicht wäre es ganz nützlich gewesen, den Feldgeistlichen zu bitten, ein Foto von dem geheimnisvollen Toten zu machen. Schließlich gehörte das zu seinen Aufgaben, und man hätte die Akte der Nummer 60 202 vervollständigen können.

Erster Teil

LYON

Der Tod von Bob Colomer

    Der bläuliche Schein der Nachtbeleuchtung warf sein diffuses Licht auf die schläfrigen Kriegsgefangenen. Der schaukelnde, blinde Zug — dunkle Vorhänge waren vor die Fenster und Türen gezogen — donnerte durch die schwarze Nacht, vorbei an Städten und Dörfern, die in

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