1306 - Hexenbalg
nicht, sich zu bewegen. Sein Mund klaffte auf. Wenig später begann er zu zittern.
Es war jemand da. Er sah die Umrisse im Gegenlicht der Sonnenstrahlen. Sie waren hell, doch nicht so hell wie das Licht. Es gab nur eine Erklärung für ihn.
Er hatte Besuch von einem Geist bekommen!
***
Thamm wusste nicht, wie die folgenden Sekunden vergangen waren und ob die Zeit nicht überhaupt stehen geblieben war. Er hätte gern an eine Täuschung geglaubt, an etwas, das ihm das helle Licht einfach vorgaukelte, doch nach dem zweiten Blick musste er erkennen, dass es die reine Wahrheit war, die er sah.
Es gab die Gestalt.
Einen Geist!
Feinstofflich, sehr hell, milchig weiß. Schwebend, obwohl er über den Boden glitt. Es war kein Geräusch zu hören. Die Stille blieb.
Nur wollte sie ihm nicht gefallen, denn sie kam ihm vor, als bestünde sie aus einer Falle.
Seine Kehle war trocken geworden. Er schaute zu, wie sich der Geist bewegte und dabei kein einziger Laut entstand. Er konzentrierte sich auf das Aussehen und meinte, den Umriss eines Gesichts zu erkennen.
Der Geist bewegte sich nur langsam, aber er blieb in Theos Nähe, und genau das bereitete ihm Probleme.
Für ihn stand fest, dass er etwas von ihm wollte und dass dieser verdammte Grund mit Edita zusammenhing. Sie war etwas Außergewöhnliches und Besonderes, und dieser Geist zählte dazu, auch wenn er in einer anderen Liga spielte.
Genau vor ihm kam die feinstoffliche Gestalt zum Stillstand. Ob er angeschaut wurde, wusste Theo nicht, jedenfalls war der Geist zum Greifen nah. Nur fasste er ihn nicht an. Er traute sich keine Bewegung zu. Angst hatte ihn starr werden lassen.
Und diese Furcht kroch wie Kälte unter seine Haut.
Hinter dem Wesen sah er das zweite Fenster. Die Sonne hatte dort freie Bahn und schien in die Gestalt hinein, aus der plötzlich eine Stimme erklang.
Nein, nicht direkt. Es war mehr ein Zischen, aber durch Worte unterlegt, die Thamm verstand.
»Warum lässt du meine Tochter nicht in Ruhe…«
***
Holz befand sich überall um ihn herum. Abgesehen von einigen Metallteilen seiner Werkzeuge.
Und hölzern fühlte er sich auch. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Mit beiden Beinen stand er auf der Erde, in die er am liebsten versunken wäre, und er hatte das Gefühl, zusammengequetscht zu werden. Die Stimme gab es, er hatte sie überdeutlich gehört, obwohl die Worte nur geflüstert worden waren.
Es war die Mutter!
Diejenige, der das Kind aus dem Leib geraubt worden war. Ein Weib, das mit dem Teufel gebuhlt hatte und das der Teufel nicht wieder losgelassen hatte.
Er begriff es nicht. Es war für ihn wie ein Schlag in das Gesicht.
Er zitterte noch immer und war dann froh, sich wieder bewegen zu können, denn er schaffte es, den linken Arm anzuheben und ihn dann der Erscheinung entgegenzustrecken.
Und dann konnte er nicht anders, als eine sehr einfältige Frage zu stellen. »Bist du das wirklich?«
»Ich bin es. Ich bin Antonia. Man hat mir mein Kind geraubt. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Man hat es versteckt und nicht begraben. Man wusste, dass es nicht normal ist, aber man wusste nicht, um wen es sich wirklich handelt. Du hast es aus dem Versteck geholt. Du bist selbst vor einem grausamen Mord nicht zurückgeschreckt. Warum hast du das getan? War es dir so wertvoll?«
»Ja, das war es. Es ist mächtig, verstehst du? Es ist das Kind einer Hexe.«
»Nein, ich war nie eine Hexe!«, drang ihm die weiche Stimme entgegen. »Ich bin eine Magd auf dem Schwaiger-Hof gewesen. Ich wurde ausgenutzt und hatte nur am Sonntag mal frei. Und das auch nicht jeden. Oft musste ich die Kruzifixe putzen und andere sakrale Gegenstände. Ich habe sie hassen gelernt in den Jahren meiner Knechtschaft. Um diesen Leben zu entkommen, nahm ich alles in Kauf.«
»Auch den Teufel?«
»Auch ihn. Er war ein schöner Mann. Ich wusste nicht, wer sich hinter ihm verbarg. Als ich es erfuhr, war es zu spät. Da spürte ich bereits sein Leben in meinem Bauch. Etwas mussten auch die Menschen um mich herum gemerkt haben. Sie nahmen mir das Kind vor der Geburt, ich starb, aber ich fand keine Ruhe. Ein Teil des Teufels steckte in mir. Ich war nicht mal wert für das Fegefeuer. Ich bin nie eine Hexe gewesen, man hat mich zu der Tat gezwungen, was unwahrscheinlich grausam war, aber ich wollte nicht, dass durch mich der Samen des Bösen in die Welt getragen wurde, und deshalb war ich froh, dass Edita versteckt wurde. Den Namen habe ich dem Kind noch vor meinem Tod
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