1349 - Chronik der Kartanin
ihr den reglosen Körper der Esperin ab und zogen sie ebenfalls ins Freie. Das Schott knallte zu. Eirene war so erschöpft, daß sie es einfach geschehen ließ, als sie zur Decke trieb. Sie machte nicht einmal den Versuch einer Abwehrbewegung, als sie mit dem Kopf gegen die Wand stieß.
Eirene erwachte in einem Alptraum. Ihr Kopf war weich gebettet, haarige, krallenbewehrte Hände preßten ihr Gesicht zusammen, über sich sah sie das von einfältiger Glückseligkeit erfüllte Gesicht einer Kartanin, Speichel troff ihr von den Lippen des Oförmig gespitzten Mundes.
Eirene wagte sich im ersten Moment nicht zu rühren. Die Kartanin, ohne Zweifel eine der der Psiphrenie verfallenen Esper, redete auf sie ein. Eirene konnte sich in Kartanisch ganz gut verständigen, aber was die Esperin zu ihr sagte, das verstand sie nicht. Es dauerte eine geraume Weile, bis Eirene erkannte, daß die Verrückte sozusagen spiegelverkehrt sprach, von hinten nach vorne. Nur weil sie immer wieder dieselben Worte wiederholte, konnte Eirene das scheinbar sinnlose Gestammel entschlüsseln.
Die Kartanin sagte: „Sellar Ebü Nebet Heg ..." und so weiter und sie meinte: „Mein Kind, meine Tochter!
Du bist ein Bastard, aber ich liebe dich. Mutterliebe geht eben über alles."
Die Hände hielten Eirenes Gesicht wie ein Schraubstock fest. Aber dann ließ die Esper los und keifte jemanden an, der sich außerhalb Eirenes Blickfeld befand. Gleich darauf spürte sie einen Zug an den Beinen. Jemand versuchte, ihr die Stiefel von den Beinen zu ziehen. Die psiphrenische Esperin, die sich für ihre Mutter hielt, sprang mit einem Satz nach vorne und schwebte, sich überschlagend, durch die Luft. Eirene hob den Kopf und sah, wie zwei Kartanin mit grotesk wirkenden Ruderbewegungen vor der Verfolgerin flohen.
Jetzt erst sah Eirene, wo sie sich befand. Links von ihr befand sich ein bis zur Decke reichendes Regal.
Darin waren in transparente Folien Kartaninleichen gestapelt. In zwölf Schichten. Eirene mußte sich abwenden, denn manche der Toten waren übel zugerichtet.
Zu ihrer Rechten lagen die Verwundeten, wie Eirene annahm, denn nur bei zwei oder drei Espern waren äußere Verletzungen zu erkennen. Eine trug eine Art Helm, unter dessen Rändern Blut sickerte. Eine andere trug einen blutigen Verband am Stummel des linken Armes. Im Hintergrund balgten sich die drei wahnsinnigen Esper, von denen sich eine für Eirenes Mutter gehalten hatte. „He, du, bist du nicht die Sayaaronerin?"
Eirene wandte sich in die Richtung, aus der sie angesprochen wurde. Die Sprecherin war eine Kartanin mit runzeliger Haut, die wie die Haut eines gerupften Federviehs aussah ... Diese Kartanin hatte ihr Fell verloren. Sie war mit zwei Gurten an eine Bahre geschnallt. „Ja, ich bin Eirene", sagte Eirene mit belegter Stimme. „Was hältst du von dem, was du hier siehst?" fragte die haarlose Kartanin. „Verstehst du überhaupt etwas davon? Ich meine, begreifst du, warum wir diese Opfer bringen?"
Eirene hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt. Ja, wollte sie sagen, sie wisse, daß die näher kommenden Ephemeridenschwärme die Milliarden Paratautropfen zur Deflagration anregten und daß die Esper versuchten, den Paratau psionisch von dem Einfluß der Ephemeriden abzuschirmen und daß die Esper manchmal ihre Köpfe hinhalten mußten, als Katalysator wirkten und zu einer Art Blitzableiter wurden ... Aber die letzten Worte zerstörten ihr Konzept. Eirene schüttelte den Kopf. „Weißt du es?" fragte sie die bedauernswerte Kartanin. Diese schüttelte ebenfalls den Kopf „Ich hoffte, du könntest es mir sagen. Früher glaubte ich, die Antwort zu kennen. Alles für das Lao-Sinh-Projekt. Aber jetzt weiß ich nicht einmal mehr, um was für ein Projekt es sich handelt. Lao-Sinh ist gewiß nicht das gelobte Land. Wofür geben wir unsere Gesundheit, unser Leben?"
„Aufbruch!" Aus dem Hintergrund tauchte die korpulente Silo-Chefin, die „Dicke Träne", auf. „Für einige von euch geht es zurück nach Hause. Das gilt aber nicht für jene, die ihren Verstand noch halbwegs beisammenhaben. Wir benötigen hier jede Frau!"
Die Kartanin mit Magnetschuhen schwärmten aus, fingen die schreienden Psiphrenischen ein, fesselten sie, trieben sie wie eine Herde Tiere zusammen, verpaßten ihnen Knebel. Zwei Kartanin kümmerten sich um die Toten. Sie holten sie aus den Regalen, stapelten immer sechs Leichen übereinander, banden sie zusammen und schoben sie im Bündel vor sich her, aus dem
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