Meineid
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« Es gab einen Moment bei der Beerdigung, da musste ich an das denken, was Greta im vergangenen Jahr so oft gesagt hatte:
«Es ist nicht wahr!»
Tatsächlich gab es mehr Lügen als Blumen in der Trauerhalle. Und die Blumen konnte man nicht zählen. Mein Platz war in der ersten Reihe, knapp zwei Meter von dem Berg entfernt, unter dem ihr Sarg fast verschwand. Dunkelrote Rosen, gepaart mit Lilien. Das Zeichen der Liebe und der Unschuld, die größte Lüge, in einem üppigen Gebinde zusammengefasst. Zwei Männer waren notwendig, um es abzunehmen und zur Seite zu legen, weil sie den Sarg sonst gar nicht hätten ins Grab lassen können. Kränze gab es kaum. Das macht man nicht mehr, hatte man mir in der Gärtnerei gesagt. Vielleicht hätten Kränze mir eher das Gefühl von Realität vermittelt, dass es ein endgültiger Abschied war. So hatte es etwas Unwirkliches. Ich rechnete fast damit, dass der rotweißgrüne Berg vor mir plötzlich in Bewegung geriet, dass sie den Sargdeckel von sich stieß, sich aufrichtete und all die Menschen anlächelte. Es müssen mehr als hundert gewesen sein, die ihr die letzte Ehre erwiesen. Sie war sehr beliebt. Mit ihrem Charme, ihrer Energie, ihrem Temperament und ihrer Ausstrahlung hatte sie überall rasch Anschluss gefunden und jeden für sich begeistert. Und jetzt standen sie da, die meisten schwarz gekleidet, Leichenmienen und zerrupfte Papiertücher in den Händen. Viele standen im Regen, weil die Trauerhalle sie nicht alle fasste. Einige weinten. Ich fühlte mich völlig ausgetrocknet und wäre am liebsten gegangen. Ein paar Mal war ich nahe daran, den Laienprediger zu unterbrechen, der all das von sich gab, was in solchen Fällen üblich ist.
«Viel zu früh aus dem Leben gerissen durch ein grausames Verbrechen!»
So musste man es sehen, wenn man nur die drei Messerstiche betrachtete, an denen sie gestorben war. Aber die Stiche waren nur die Oberfläche, darunter war so viel mehr, dass es mir zeitweise unerträglich wurde, dem weichen, betulichen Tonfall noch länger zuzuhören. Um es irgendwie zu überstehen, las ich die Sprüche auf den Bändern.
«In tiefer Trauer, «In stillem Gedenken», «Ein letzter Gruß», «Ich werde dich nie vergessen!»
Wie sollte ich sie vergessen!? Und wie sollte ich einem Menschen erklären, was ich verloren habe? Den Glauben an ein fest gefügtes Weltbild; das Vertrauen, dass die Dinge sind, was sie zu sein scheinen. Die letzten Tage waren grausam, nichts war mehr so, wie ich es lange Zeit gesehen hatte. Alles kippte ins Gegenteil, als hätte sie mit ihrem Tod einen Kübel geöffnet, in dem alle Scheußlichkeiten langsam verrotteten, alle Widerwärtigkeiten, die ein Hirn sich nur auszudenken vermag. Und denen, die zurückblieben, wurde der gesamte Unrat vor die Füße gekippt. Als wir die Trauerhalle verließen, regnete es heftiger, als wolle die Natur mit einem kräftigen Schauer alle Spuren beseitigen. Wenn es nur so einfach wäre. Nicht alles lässt sich abwaschen wie das Blut von einem Messer, die Schuld auf keinen Fall. Und schuldig geworden war jeder von uns auf seine Art. Jan und Tess, Greta und ich, Niklas Brand. Wir waren ein seltsames Quartett. Zwei Paare, gute Freunde in den Augen der Öffentlichkeit. Zwei Männer, die sich dem Anschein nach ausgezeichnet unterhielten, wenn sie zusammentrafen, die sich tatsächlich aber vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an belauert und sich gegenseitig keinen halben Meter über den Weg getraut hatten. Und an ihrer Seite zwei Frauen, die seit dreißig Jahren befreundet waren und daran festhielten, sich nicht auseinander bringen ließen – nicht von Außenstehenden, und in diesem Fall war jeder außenstehend –, nicht einmal von ihren eigenen Gefühlen. Tess war immer ein fester Bestandteil in Gretas Leben gewesen. Sie war die Schwester, die Greta nie hatte, die sorglose, leichtlebige Schwester, die nichts auslassen wollte. Tess war Gretas buntes Ich, ihr Paradiesvogel. Greta hat Tess geliebt. Bei all den Lügen ist das eine Wahrheit, die einzige, die ich bereit wäre, jetzt noch zu beschwören. Es haben sich im Laufe der Zeit viele Leute gewundert, dass Gretas Beziehung zu Tess so beständig war. Wie oft habe ich gehört, sie hätten doch absolut keine Gemeinsamkeiten. Die hatten sie auch nicht. Solange sie Kinder gewesen waren, hatten sie zumindest die gleiche Basis gehabt. Sie stammten beide aus einfachem Elternhaus, konnten beide nicht mithalten, wenn es um die schicken Autos der Väter oder
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