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159 - Schimären der Wüste

159 - Schimären der Wüste

Titel: 159 - Schimären der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael M. Thurner
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verstanden, um was es ging, brachte es sie nun mit zügigem Schritt zurück zum Schattenfelsen. Schon von weitem waren unzählige Körper zu erkennen, die in der Gegend verstreut lagen.
    »Mach, dass sie nur schlafen, Wudan«, bettelte Aruula.
    »Lass sie bitte nicht alle tot sein!«
    Hier und dort bewegten sich müde Gestalten zwischen den liegenden Schimären. Der Wind trieb Wehklagen heran. Alte Weiber beklagten die Opfer. Aruula musste das Schlimmste befürchten.
    »So ist es nicht gedacht gewesen«, murmelte sie, während sie Rapushnik weiter antrieb. Schließlich sprang sie vom Kamshaa und lief trotz höllisch schmerzender Glieder weiter.
    Immer wieder blieb sie stehen, kniete neben zusammengebrochenen Frauen und Männern nieder, drehte leblose Körper um und fühlte nach dem Puls.
    Die meisten waren tot. Andere erwachten aus tiefer Ohnmacht, als wäre ihr Eintreffen der auslösende Impuls gewesen.
    Aruula erreichte den Felsenrund.
    In seinem Inneren rührte sich nichts mehr. Zwanzig oder dreißig Tote lagen umher. Ihre Augen waren in endlosem Schrecken weit aufgerissen, die Körper unnatürlich verdreht.
    So wäre sie auch geendet, hätte Rapushnik sie nicht weggeschleppt.
    Als Aruula nach Moogans Leiche Ausschau hielt bemerkte sie, dass hier drinnen doch noch jemand lebte: Ein Mann mit weißen Haaren kniete am Boden. Langsam wandte er sich ihr zu und sah sie mit ausdruckslosen Augen an.
    »Sy’cho?« Aruula konnte es kaum glauben, aber er war es!
    Sie trat näher. Der Junge war über Nacht ergraut – aber er lebte!
    »Er liegt hier«, sagte Sy’cho mit leiser, gebrechlicher Stimme. »Er wird uns nie wieder Schmerz zufügen…«
    Aruula hatte für den Toten kaum einen Blick. »Wie hast du überlebt?«, fragte sie stattdessen.
    »Ich war ohne Bewusstsein, als die anderen starben«, erwiderte Sy’cho. »So einfach ist das. Indem er mich niederschlug, hat er mein Leben gerettet.«
    Aruula wusste nicht, was sie sagen sollte. »Die Schimären können von vorne beginnen«, versuchte sie es.
    »Ich zweifle, ob wir jemals darüber hinwegkommen werden.« Sy’cho scharrte Sand über Moogans zerstörtes Gesicht. Es wirkte alt und verbraucht, fast wie das eines Greises. »Auch wenn ich diesen Menschen mehr gehasst habe als jedes andere Lebewesen, so fühle ich dennoch Leere in mir. Wer wird uns jetzt sagen, was richtig und was falsch ist? Wo haben Moogans Täuschungen begonnen, wo haben sie aufgehört? Welche unserer Traditionen sind echt, welche hat der… Herr erfunden? Kannst du mir diese Fragen beantworten, Aruula?«
    »Nein.« Sie nahm den alt gewordenen Jungen am Arm und führte ihn langsam aus dem Felsenrund. »Ihr seid wie Kinder, die alles von vorne erlernen müssen. Vor allem die Regeln des Zusammenlebens.« Ihr Gesicht hellte sich auf, als ihr ein schöner Gedanke kam. »Sieh es als Vorteil: Ihr habt all die hässlichen Seiten einer Gesellschaft kennen gelernt. Wenn ihr sie von nun an vermeidet, könnt ihr eine neue erschaffen, die auf all dem beruht, was euch erstrebenswert erscheint.«
    »Die Wunden sitzen so tief…«
    »… und verheilen dennoch. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Aruula zwang sich zu einem Lächeln.
    »Nicht alle.« Tränen rannen seine staubigen Wangen hinab.
    »Ich habe dir erzählt, wie Rium’li während unseres Fluchtversuchs gestorben ist?«
    »Ja. Es wird andere Frauen in deinem Leben geben…«
    »Darum geht es nicht, Aruula. Weißt du, wie sie umgekommen ist?« Sy’cho schluchzte. »Ich erwürgte sie. Moogan hat mich dazu gezwungen. Und ich glaube… ich hatte Spaß dabei.«
    Aruula schwieg.
    Es gab nichts zu sagen.
    ***
    Binnen zweier Tage räumten die überlebenden Schimären die Kruste. Nichts sollte sie mehr an die Schreckensherrschaft Moogans erinnern. Große Feuer zerstörten alle Relikte aus der Alten Zeit in der großen Höhle. Niemand hatte sich in die Wohnung ihres ehemaligen Herrn hinaufgewagt. Manche Geheimnisse, die dort zweifelsohne auf ihre Entdeckung gewartet hatten, blieben besser ungeklärt, so beschloss es N’oia, der das Massaker ebenfalls überlebt hatte. Der Krieger zeigte als einer von Wenigen ausreichend Initiative, um die vielen Dinge, die sie nunmehr beschäftigten, zu organisieren.
    Aruula zweifelte nicht daran, dass er bald eine prominente Rolle im Gefüge der Schimären spielen würde.
    Doch das war nicht mehr ihr Problem. Sehnsüchtig blickte sie nach Südosten. Dort, in unbestimmten Fernen, wartete etwas auf sie, dem sie sich nicht

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