1655 - Die »Heiligen« von London
unser Treffpunkt lag. Es war eine Gegend, in der zahlreiche Menschen unterwegs waren. Geschäft reihte sich an Geschäft. Vom Blumenladen über Boutiquen bis hin zu kleinen Imbissen und Pubs. Das Café lag an einer Ecke, sodass es dort mehrere große Scheiben gab. Sie gaben den Blick auf das Innere frei, und ich sah, dass Platz genug vorhanden war. Über eine Treppe gelangte ich bis an die Eingangstür, drückte sie auf und war froh, dass kein Hardrock meine Ohren malträtierte, denn dabei wäre eine Unterhaltung schwierig geworden.
Ich suchte den Mann, der die Times vor sich liegen hatte. Sofort entdeckte ich ihn nicht und musste schon in den etwas dunkleren Hintergrund des Lokals gehen, dessen Wände mit Plakaten bedeckt waren, die allesamt Reklame für Rockgruppen machten. An der Wand saß Derek Sanders. Da lag tatsächlich die Times vor ihm, und er hatte sich eine Cola bestellt. Er saß so, dass er in das Lokal hineinschaute, sah mich und winkte mir zu.
Trotzdem fragte er: »John Sinclair?«
»Ja, der bin ich. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?«
»Nein, nicht nötig. Nehmen Sie Platz.«
Das tat ich und wurde gleich darauf von der Bedienung angesprochen. Ich bestellte einen normalen Kaffee, denn im Büro hatte ich keinen getrunken. Wir musterten uns gegenseitig. Derek Sanders war ein Mann in meinem Alter. Sein Haar wuchs sehr dicht und weizenblond. Bei ihm fielen die fleischigen Wangen auf und der harte Blick seiner Augen.
Erst als mein Kaffee serviert worden war, sprach er mich an.
»Sie haben also meinen Bruder gefunden.«
»Habe ich.«
Er lehnte sich zurück. »Sie glauben gar nicht, welche Kreise das schon jetzt zieht, Einige Menschen sind sehr alarmiert worden, schließlich arbeitete mein Bruder in einer Abteilung, die sich mit der Bekämpfung des Terrorismus befasst. Er stand zwar nicht als Agent an der Front, aber er war ein IT-Spezialist und besaß ein sehr großes Wissen, das auch für Menschen interessant sein kann, die nicht auf unserer Seite stehen. Jetzt begreifen Sie vielleicht die Brisanz.«
»Das denke ich schon. Aber ich gehe davon aus, dass Ihr Bruder nicht deswegen gestorben ist.«
»Ach? Nicht?«
»Ja.«
»Und da sind Sie sich sicher?«
»Das bin ich.«
Sanders griff nach seinem Glas, hob es an und trank einen Schluck. Danach formulierte er die nächste Frage. »Ich will Ihnen nichts, Mr. Sinclair, aber ich frage mich, warum gerade Sie es gewesen sind, der meinen Bruder entdeckt hat.«
»Das ist sehr einfach.«
»Da bin ich gespannt«, flüsterte er lauernd.
Ich legte die Karten auf den Tisch und sagte: »Ich habe einen Anruf erhalten, der mich zu einem bestimmten Ziel lockte. Und dort habe ich Ihren Bruder gefunden. Man hat ihn auf eine fürchterliche Weise umgebracht.«
»Ja, das habe ich schon gehört«, murmelte Sanders. »Sie können sich Einzelheiten sparen. Aber warum hat man gerade Sie dorthin gelockt?«
Ich griff zu einer Notlüge und sagte: »Sorry, aber das weiß ich nicht. Ich sollte den Mann wohl finden, und das habe ich getan. Man muss es akzeptieren.«
Sanders nickte, sagte aber zugleich: »So leicht bin ich nicht zufriedenzustellen. Ich weiß doch, wer Sie sind.«
»Und?«
»Sie kümmern sich um Fälle, die normalerweise überhaupt nicht zu akzeptieren sind.«
»Das sagen Sie.«
»Ja. Aber vergessen Sie das. Ich habe nur eine allgemeine Meinung wiedergegeben.«
Seine Schultern zuckten. »Jetzt bin ich wohl gezwungen, mich näher mit Ihnen zu beschäftigen. Und ich frage mich natürlich, weshalb gerade Sie angerufen worden sind. Denn Sie kümmern sich ja nicht um die normalen Fälle.«
»Der Fall ist auch nicht normal.«
Mein Gegenüber verengte die Augen. »Wie muss ich das verstehen?« Er versuchte, sich selbst die Antwort zu geben. »Sie jagen Mörder, aber diese Mörder sind normalerweise keine normalen Menschen. Oder liege ich da falsch?«
»Reden Sie weiter.«
»Gern, Mr. Sinclair. Wenn es also keine normalen Menschen sind, dann ist mein Bruder auch nicht von normalen Menschen umgebracht worden. Kann man das so sagen?«
»Das denke ich schon. Obwohl es auch Ausnahmen gibt. Ich kann Ihnen jedenfalls nicht sagen, ob es normale Menschen gewesen sind oder welche, die zu einer anderen Kategorie gehören.« Auf diesen Begriff ging ich nicht näher ein. »Aber ich muss Ihnen nicht erst sagen, dass Taten oder Morde nicht grundlos geschehen. Ein Motiv ist immer vorhanden.«
»Ja«, murmelte er. »Und wie lautet das Motiv, weshalb mein Bruder auf diese
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