1655 - Die »Heiligen« von London
Mehr als zwei Stunden zuvor war ich froh gewesen, meine Wohnung erreicht zu haben. Den großen Schneefall hatte die Stadt hinter sich. Jetzt waren die Temperaturen wieder gestiegen, und damit war auch Tauwetter angesagt. Rutschige Straßen, viel Matsch. Menschen, die sich aufregten und übernervös waren. Die Fahrt durch die Stadt glich immer mehr einem Hindernisrennen, und jeder war froh, wenn er sein Ziel erreichte. Da ging es auch mir nicht anders.
Die Weihnachtstage waren recht ruhig verlaufen. Jetzt wartete jeder auf den Jahreswechsel, und ich hoffte, dass ich erst im nächsten Jahr den großen Stress erleben und mir meine Feinde bis dahin ein paar ruhige Tage gönnten. Es war nicht so, dass meine Wohnung der Inbegriff der Gemütlichkeit gewesen wäre; aber einen gewissen Wohlfühlfaktor wies sie schon auf. Zumindest für mich. Hinzu kam noch die Ruhe und eine wohlige Wärme, die schon schläfrig machen konnte. Schlafen wollte ich jedoch nicht. Zudem musste gelüftet werden. Ich öffnete die Fenster, machte Durchzug und ließ die kalte Winterluft wehen, bevor ich ein langes Baguette aufwärmte, das mein Abendessen darstellte. Es reichte, um den Hunger zu stillen.
Ich hatte noch darüber nachgedacht, ob ich auf dem Nachhauseweg etwas essen sollte, mich dann aber entschlossen, es in der Wohnung zu tun.
Ich schaute aus dem Fenster. Es schneite nicht mehr, dafür wehte ein kalter Wind, der mir ins Gesicht fuhr.
Nachdem die Bude genügend gelüftet war, nahm ich mein Essen zu mir. Ich hatte eine kleine Flasche Bier aus dem Sixpack gelöst und ließ das Getränk in ein Glas laufen. Wie ich den Abend verbringen wollte, wusste ich noch nicht genau. Vielleicht etwas lesen, mal einen Blick in die Glotze werfen, um mich dann recht früh auf die Matratze zu legen. In meinem Job war man froh, wenn man Schlaf vor- oder nachholen konnte. Das Baguette war mit Putenfleisch belegt und einer schwachen Schicht aus Käse. Man konnte es sogar essen, das Bier schmeckte auch, und ich konnte eigentlich recht zufrieden sein, obwohl ich daran dachte, wie schnell mal wieder die Zeit vergangen war. Das Jahr war wie nichts vorbeigeflogen. Doch ich hatte einen großen Erfolg verbuchen können, denn es war uns gelungen, Will Mallmann alias Dracula II zu vernichten.
Mein Leben war danach trotzdem nicht ruhiger verlaufen, und das würde auch im folgenden Jahr so bleiben. Da war ich mir sicher, denn dieser Kreislauf war schon seit Jahren nicht unterbrochen worden.
Nebenan wohnten Suko und Shao. Beide hatten an diesem Abend etwas vor, denn Shao hatte darauf bestanden, dass Suko sie in ein Musical begleitete. Erfreut war er darüber nicht gewesen, aber er hatte auch nicht ablehnen können. Ich war allein, ich aß allein. Ich trank allein - und hörte auch allein die Melodie des Telefons.
Warum das? Ich starrte den Apparat mit bösen Blicken an, als würde er unter diesem Einfluss explodieren. Ich murmelte mehrere Flüche hintereinander und dachte darüber nach, ob ich abheben sollte oder nicht.
Große Lust hatte ich nicht, denn die meisten Telefonanrufe brachten nur Ärger. Schließlich siegte das Pflichtgefühl. Ich holte den Apparat von der Station, nachdem ich den Mund leer hatte, und meldete mich.
»Ja bitte…?«
»Hi.«
Mehr hörte ich nicht. Nur fiel mir der Klang der Stimme auf. Der gehörte sicherlich zu einer erwachsenen Person, aber in dieser Tonlage hätte mich auch ein Kind ansprechen können.
»Na und?«, sagte ich.
»Ich bin ich.«
Damit konnte ich nichts anfangen. »Aha. Und wer ist das?«
»Der Heilige!«
Ich schluckte, wollte lachen, auch auflegen, weil ich mich verarscht fühlte, aber da gab es etwas, was mich davon abhielt, und so hörte ich auf das unbestimmte Gefühl und ließ mich auf ein Gespräch ein. Es konnte auch sein, dass sich der Anrufer verwählt hatte, was ich allerdings nicht so recht glaubte.
»Bitte? Was sagten Sie?«
»Ich bin der Heilige.«
»Aha.« Zugleich wunderte es mich, dass sich plötzlich ein leichter Schauer auf meinem Rücken bildete. Es war so etwas wie eine Warnung vor dem Ungewissen.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
Der Anrufer kicherte. »Es wäre auch schlecht, wenn du auflegen würdest. Denn nur wer zuhört, verpasst nichts. Das sollte dir doch klar sein, Sinclair.«
Ich war zwar innerlich gespannt, gab meiner Stimme aber einen gelangweilten Tonfall.
»Kommen Sie zur Sache!«
»Ich bin schon dabei.«
»Wunderbar.«
»Hör mir genau zu, Geisterjäger…«
Das tat ich und
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