184 - Die Herren von Sydney
führte. Dort gab es ein Labyrinth von Korridoren, kleinen Garderobenräumen und einen Zugang zu dem Souffleurkasten, durch den man hören konnte, was in dem großen Saal gepredigt wurde.
Nachdem Roney sich überzeugt hatte, dass die Tür unverschlossen und die Gänge passierbar waren, lotste er die drei Besucher ungesehen unter die Bühne. Am Souffleurkasten vernahmen sie das aufgeregte Murmeln zahlloser Stimmen und das ungeduldige Scharren vieler Füße.
Einzelne Stimmen riefen »Anfangen!«, was für ein Gotteshaus ziemlich ungewöhnlich war. Jemand, in dem Roney Magister Nikodeemus zu erkennen glaubte, erwiderte beschwichtigend »Geduldet euch!«, doch die unter dem Dach der Oper versammelten Massen schienen noch nervöser zu werden. Ein Stimmenchor schwoll an.
Plötzlich knallte ein Schuss.
Roney sah, dass Quart’ol und seine Begleiter zusammenfuhren. Erst dann hörte er einen Schrei aus vielen hundert Kehlen. Bevor er sich fragen konnte, was über ihnen passiert war, hörte er das Brüllen explodierender Granaten und das Knattern von Schusswaffen.
Roney wusste nicht, wie das Hohe Haus erfahren hatte, was die Kirchenfürsten an diesem Morgen planten, aber eins stand fest: Sie hatten agile Spitzel und waren nicht bereit, eine Revolte hinzunehmen. Sie hatten unverkennbar zum Angriff geblasen. Der einsame Flieger über dem Hallendach war nur ihre Vorhut gewesen.
Noch bevor jemand das Wort an die Massen richtete, knallte es mehrmals, und Roney erkannte anhand des Getöses, dass die Drachenflieger im Begriff waren, das Hallendach in die Luft zu blasen, damit ihre Feuerwaffen bessere Ziele fanden.
Er reckte den Hals aus dem Souffleurkasten und versuchte einen Blick in den Saal zu werfen. Eine helle Stelle war in der Mitte der Decke zu sehen, und eine riesige Staubwolke breitete sich schnell aus. Im Saal herrschte Panik und Geschrei. Die Menschen drängten zu den Ausgängen und trampelten über jene hinweg, die gestolpert waren und am Boden lagen. Roney hörte das Weinen von Frauen und Kindern, heisere Flüche aus Männerkehlen und die Hilfeschreie jener, über die sich die Menge hinweg wälzte.
Dann das nächste Krachen, das noch schlimmeres Geschrei erzeugte. Roney brauchte nicht lange zu lauschen, um zu erkennen, was sich dort mit rasselnden Ketten durch die Halle wälzte: Das Oberkommando hatte den Panzer in Marsch gesetzt. Auch wenn sein Geschütz nur eine Attrappe war – die moralische Wirkung des Stahlkolosses war nicht zu unterschätzen.
Alle stürmten hinaus. Die Flieger kreisten weiter über dem Deckenloch. Sie schossen, bis die Halle verlassen war und die Menge in ihre Behausungen zurück floh.
Der Panzer fuhr ratternd im Kreis durch die Halle. Das Turmluk war offen, die Besatzung ausgestiegen. Ein Mann lag besinnungslos am Boden. Ein zweiter Uniformierter stolperte rückwärts über Magister Nikodeemus, der mit gespreizten Beinen auf dem Brustkorb eines dritten saß und auf dessen Nase einschlug.
Kaplan Willie stand vor dem vierten Soldaten, breitete die Arme aus und sagte: »Entschuldige, Bruder«. Dann knallte er seinem Gegenüber die Faust so fest ans Kinn, dass der ohnmächtig umfiel.
Nikodeemus versetzte dem Mann, auf dem er saß, einen letzten Uppercut, dann sprang er auf und trat dem Soldaten, der über ihn gestolpert war, unters Kinn, dass der mit einem Gurgeln ins Reich der Träume wechselte.
»Hierher!«, schrie Roney, als er im Haupteingang der Oper mehrere hektisch um sich schauende Uniformierte sah. Willie und Nikodeemus rannten mit langen Sätzen zur Bühne und schwangen sich hinauf. Roney zog den Kopf ein und machte Platz für die beiden. Unter der Bühne angekommen, zeigte sich, dass auch Kaplan Willie üble Flüche kannte.
»Lass uns abhauen«, sagte Nikodeemus. »Ich glaube, dass das Hohe Haus seine Macht für heute gesichert hat.«
»Ja«, schäumte Willie und ballte seine Hände zu Fäusten. »Sie haben unsere ganze Führung geschnappt! Ich könnte vor Wut schreien!« Er schaute sich um, als wollte er jemanden treten.
Nikodeemus packte seine hellgraue Kutte und zog ihn hinter sich her. »Kommt mit!« Er winkte Roney und den anderen zu. »Wir müssen in den Keller und von dort in die Kanalisation. Ich weiß einen Weg nach draußen…«
***
Die Zimmerflucht, in der sie nach stundenlanger Wanderung durch glitschige Abwasserkanäle eine Heimstatt fanden, befand sich in einem Gasthof, dessen letzter seriöser Kunde seine Rechnung vermutlich um 2012 erhalten
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