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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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erschießen einen immer mit genickschuß mir ist es egal nieder mit dem großen bruder –«
    Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, ein wenig beschämt über sich selbst, und legte den Federhalter hin.
    Im nächsten Augenblick fuhr er heftig zusammen. Es klopfte jemand an die Tür.
    Schon! Er saß mucksmäuschenstill da, in der vergeblichen Hoffnung, der Draußenstehende könnte nach einem einmaligen Versuch weggehen. Aber nein, das Klopfen wurde wiederholt. Das Schlimmste, was er tun konnte, war zu zögern. Sein Herz klopfte wie eine Pauke, aber sein Gesicht war, vermutlich aus langer Gewohnheit, ganz ausdruckslos. Er stand auf und ging schweren Schrittes zur Tür.

Zweites Kapitel
    Während er die Hand auf die Türklinke legte, sah Winston, daß er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. Nieder mit dem Großen Bruder stand da über die halbe Seite hinweg in Buchstaben, die beinahe groß genug waren, um durch das ganze Zimmer leserlich zu sein. Es war eine unvorstellbare Dummheit. Aber er stellte fest, daß er es sogar in seinem Schrecken nicht über sich gebracht hatte, das weiße Papier dadurch zu besudeln, daß er das Buch zuklappte, solange die Tinte noch naß war.
    Er hielt den Atem an und öffnete die Tür. Sofort durchflutete ihn eine warme Welle der Erleichterung.
    Draußen stand eine farblose, zerknittert aussehende Frau mit strähnigem Haar und tiefgefurchtem Gesicht.
    »Ach, Genosse«, begann sie mit leidender Jammerstimme, »mir war so, als ob ich Sie heimkommen hörte. Könnten Sie wohl herüberkommen und sich eben mal unsern Ausguß in der Küche ansehen? Er ist verstopft und –«
    Es war Frau Parsons, die Frau des Nachbarn auf dem gleichen Flur. (Die Bezeichnung »Frau« wurde von der Partei nicht gern gesehen – man erwartete, daß man alle Leute mit »Genosse« oder »Genossin« anredete –, aber bei einigen Frauen gebrauchte man das Wort ganz unwillkürlich.) Sie war eine Frau von etwa dreißig Jahren, sah aber viel älter aus. Man hatte den Eindruck, daß sich in den Falten ihres Gesichts Staub angesetzt hatte. Winston folgte ihr durch den Gang. Solche eigenhändigen, unfachgemäßen Reparaturarbeiten waren eine fast alltägliche Last. Der Victory-Block war ein alter, etwa um das Jahr 1930 gebauter Wohnungskomplex und ging langsam in die Brüche. Dauernd bröckelte der Verputz von Decken und Wänden, die Leitungsrohre platzten bei jedem starken Frost, das Dach ließ Wasser durchsickern, sobald es schneite, die Zentralheizung war gewöhnlich nur unter halbem Druck, wenn sie nicht aus Sparsamkeitsgründen ganz abgestellt war. Reparaturen mußten, wenn man sie nicht selbst machte, von abgelegenen Ämtern genehmigt werden, die es fertig brachten, sogar das Wiedereinsetzen einer Fensterscheibe zwei Jahre hinauszuzögern.
    »Ich komme natürlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, murmelte Frau Parsons unbestimmt vor sich hin.
    Die Wohnung der Parsons war größer als die von Winston und auf eine andere Art schäbig. Alles sah hier abgestoßen und niedergetrampelt aus, so als seien die Räume eben von einem großen wilden Tier heimgesucht worden. Sportgeräte – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein aus den Nähten geplatzter Fußball, eine verschwitzte, umgekrempelte Turnhose – lagen sämtlich über den Fußboden verstreut, und auf dem Tisch war ein Durcheinander von schmutzigem Geschirr und eselsohrigen Schulbüchern. An den Wänden hingen knallrote Wimpel der Jugendliga   und der sogenannten Späher , nebst einem Plakat vom Großen Bruder in Großformat. Auch hier schwebte der übliche Kohlgeruch, der dem ganzen Haus anhaftete, in der Luft, aber er war von einem schärferen Schweißdunst geschwängert, nach dem Schweiß eines – wie man vom ersten Schnuppern an wußte, wenn man auch schwer den Grund dafür hätte sagen können – im Augenblick abwesenden Menschen. In einem ändern Zimmer versuchte jemand im Takt der Militärmusik, die noch immer aus dem Televisor dröhnte, auf einem Kamm mit darüber gespanntem Toilettenpapier zu blasen.
    »Es sind die Kinder«, sagte Frau Parsons mit einem halb furchtsamen Blick auf die Tür. »Sie sind heute nicht aus dem Haus gekommen. Und natürlich –«
    Sie hatte eine Angewohnheit, ihre Sätze mittendrin abzubrechen. Der Küchenausguß war fast bis zum Rand voll mit schmutzig-grünlichem Wasser, das schlimmer als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete nieder und untersuchte das gebogene Verbindungsstück des Ableitungsrohres. Er

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