Das Gewicht des Himmels
1
August 1963
A lice spazierte am moosigen Waldrand entlang. Immer wenn sich ihr ein schattiges Plätzchen bot, verweilte sie kurz. Sie wartete auf das Motorengeräusch seines Austin-Healy und darauf, dass er wenige Sekunden später den Wirtschaftsweg heruntergerast kam – den Weg, der das Naturschutzgebiet von den Blockhäusern am See trennte. Doch sie hörte nur das Geschnatter der Indigofinken in der Blätterkathedrale über ihr. Die strahlend blauen Männchen stoben tiefer in den Wald hinein, wenn Alice ihr »Tziet-tziet-tzu-tzu-tziet-tziet« nachahmte. Während sie sich langsam durchs Unterholz arbeitete, streiften die hellgrünen Köpfe der Kiefernsämlinge ihre Hosen. Sie hatte sich so zurechtgemacht, dass sie mit dem Wald verschmolz; ihr Haar war unter einer Schildmütze hochgesteckt und ihre Kleidung graubraun und unauffällig. Da endlich, sein Auto! Sie duckte sich hinter einige Birken und machte sich so klein wie möglich, kauerte sich in eine flache Grube voll mit Farnen und Laub. Ihr Vogelbeobachtungsheft und die Gedichtsammlung balancierte sie auf den Knien, während sie Rinde von den Birkenstämmen riss und beobachtete, wie er auf den Schotterparkplatz seines Anwesens einbog.
Er schaltete den Motor aus, blieb aber noch in seinem Cabrio sitzen. Genüsslich zündete er sich eine Zigarette an, die er mit geschlossenen Augen so langsam rauchte, dass sie sich schon fragte, ob er vielleicht eingenickt oder in seine typische Trance gefallen war. Als er sich dann endlich aus dem engen Vordersitz gezwängt hatte, stand er so aufrecht und schmal da wie die dunklen Baumstämme hinter ihm, die seinen Schatten schluckten. Alice bewegte sich, denn ihr linker Fuß war eingeschlafen und prickelte. Die Blätter unter ihr raschelten. Das Geräusch hätte genauso gut von einem kleinen Tier stammen können, aber er drehte sich sofort zu ihrem Versteck um und starrte auf einen Punkt über ihrem Kopf. Sie hielt den Atem an.
»Alice«, flüsterte er in die warme Luft hinein. Sie konnte das Zischen gerade noch hören, gerade noch sehen, wie seine Lippen sich bewegten. Aber sie war sich sicher, dass er ihren Namen gesagt hatte. Ja, das hatten sie gemeinsam: Beide beobachteten gern, wenn auch auf verschiedene Art.
Er nahm eine Papiertüte vom Beifahrersitz und drückte sie beinahe liebevoll an die Brust. Da sind Flaschen drin, wusste sie und dachte an ihren Vater; daran, wie oft er zwi schen dem Auto und ihrem Sommerhäuschen hin- und her gelaufen war, um den mitgebrachten Alkohol hereinzuholen: einen Monatsvorrat an Toasts und Schlummertrunken und Katerkiller-Drinks. Die verdammten Einheimischen erhöhen die Preise, sobald die Sommergäste auftauchen, hatte ihr Vater gesagt. Warum soll ich zweimal für etwas bezahlen, was ich bloß einmal trinken kann? Ihn haute niemand übers Ohr. Alles hatte er dabei: Rot- und Weißwein, Champagner, Galliano und Orangensaft für die Wallbanger ihrer Mutter, Wodka und Gin, ein paar alkoholfreie Getränke zum Mischen, eine Flasche erlesenen Wodka und einige Sixpacks Bier. Und er hatte es genauso sorgsam ins Haus getragen wie Thomas Bayber jetzt seine Flaschen.
Sie wartete, bis er die kurze Steintreppe hochgegangen war und die Fliegengittertür hinter sich zugeknallt hatte, bevor sie es wagte, sich zu rühren. Sie setzte sich auf den mit Kiefernnadeln übersäten Boden und kratzte sich an einem Mückenstich. Dann schlug sie den Gedichtband auf. Mrs. Phelan, die Bibliothekarin, hatte ihn für sie zur Seite gelegt, als er gerade frisch eingetroffen war.
»Mary Oliver. Ich bleibe und andere Gedichte . Meine Schwester hat mir das aus London geschickt, Alice. Ich dachte, du wärst vielleicht gerne die Erste, die es liest.« Mrs. Phelan fächerte die Seiten auf und zwinkerte Alice verschwörerisch zu. »Es riecht noch ganz neu.«
Alice hatte sich das Buch für den See aufgehoben. Sie wollte die Gedichte erst lesen, wenn sie sich in einer genau passenden Umgebung befand. Am Morgen hatte sie an der Bootsanlegestelle ein Handtuch ausgebreitet, das noch etwas feucht war und nach Algen roch. Auf dem Bauch liegend, die Ellenbogen aufgestützt, blätterte sie in dem Buch. Das helle Sonnenlicht, das vom weißen Papier zurückgeworfen wurde, machte ihr Kopfschmerzen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, und bald hatte die Hitze ihre Haut zartrosa gefärbt. Sie las immer weiter, hielt den Atem an, wenn eine Strophe vorbei war, konzentrierte sich auf die Sprache, die genaue Bedeutung der Wörter. Es
Weitere Kostenlose Bücher