1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
hatte sinken lassen; aber wenn er ihn auch nicht wiederherstellen konnte, so konnte er sich doch daran erinnern, so wie man sich an ein lebhaftes Erlebnis in einer fernen Zeit seines Lebens erinnert, als man in Wahrheit ein anderer Mensch war.
»Sie sehen jetzt«, sagte O'Brien, »daß es in jedem Falle möglich ist.«
»Ja«, sagte Winston.
O'Brien stand mit einer befriedigten Miene auf. Links hinter ihm sah Winston den Mann im weißen Mantel eine Ampulle abbrechen und den Kolben einer Spritze zurückziehen. Mit einem Lächeln wandte sich O'Brien zu Winston. Fast in der alten Art rückte er seine Brille auf der Nase zurecht.
»Erinnern Sie sich, in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben«, sagte er, »daß es nichts ausmachte, ob ich ein Freund oder ein Feind sei, da ich wenigstens ein Mensch war, der Sie verstand und mit dem man reden konnte? Sie hatten recht. Ich rede gerne mit Ihnen. Ihr Geist sagt mir zu. Er ähnelt meinem eigenen, nur daß Sie wahnsinnig sind. Ehe wir die Sitzung beenden, können Sie, wenn Sie wollen, ein paar Fragen an mich stellen.«
»Jede Frage, die ich will?«
»Alles.« Er sah, daß Winstons Blick auf die Zahlenscheibe gerichtet war. »Sie ist abgestellt. Wie lautet Ihre erste Frage?«
»Was hat man mit Julia gemacht?« sagte Winston.
O'Brien lächelte wieder. »Sie hat Sie verraten, Winston. Sofort – rückhaltlos. Ich habe selten jemand so rasch zu uns übertreten sehen. Sie würden sie kaum wiedererkennen, wenn Sie sie sehen. Ihre ganze Widerspenstigkeit, ihre Tücke, ihre Narrheit, ihre niedrige Gesinnung – alles das wurde ihr ausgebrannt. Es war eine vollständige Bekehrung, das richtige Schulbeispiel.«
»Man hat sie gefoltert.«
O'Brien ließ das unbeantwortet. »Nächste Frage«, sagte er.
»Existiert der Große Bruder?«
»Natürlich existiert er. Die Partei existiert. Der Große Bruder ist die Verkörperung der Partei.«
»Existiert er so, wie ich existiere?«
»Sie existieren nicht«, sagte O'Brien.
Wieder überfiel ihn das Gefühl der Hilflosigkeit. Er kannte die Argumente, oder konnte sie sich vorstellen, die seine eigene Nichtexistenz bewiesen; aber sie waren Unsinn, sie waren nur ein Spiel mit Worten. Enthielt nicht die Feststellung »Sie existieren nicht« eine logische Sinnwidrigkeit? Aber was für einen Zweck hatte es, das auszusprechen? Sein Geist scheute zurück, als er an die unbeantwortbaren, verrückten Argumente dachte, mit denen O'Brien ihn abtun würde.
»Ich glaube, ich existiere«, sagte er müde. »Ich bin mir meines Ichs bewußt. Ich wurde geboren und werde sterben. Ich habe Arme und Beine. Ich nehme einen gewissen Platz im Raum ein. Kein anderer fester Gegenstand kann gleichzeitig den gleichen Platz einnehmen. Existiert der Große Bruder in diesem Sinne?«
»Das ist ohne Bedeutung. Er existiert.«
»Wird der Große Bruder jemals sterben?«
»Natürlich nicht. Wie könnte er sterben? Nächste Frage.«
»Gibt es die Brüderschaft?«
»Das, Winston, werden Sie nie erfahren. Falls wir beschließen, Ihnen die Freiheit zurückzugeben, wenn wir mit Ihnen fertig sind, und Sie leben weiter, bis Sie neunzig Jahre alt sind, werden Sie doch nie erfahren, ob die Antwort auf diese Frage ja oder nein lautet. So lange Sie leben, wird das in Ihrem Denken ein ungelöstes Rätsel sein.«
Winston lag still da. Seine Brust hob und senkte sich ein wenig rascher. Noch hatte er nicht die Frage gestellt, die ihm als erste in den Sinn gekommen war. Er mußte sie stellen, und doch war es so, als wollte sie ihm nicht über die Lippen kommen. Ein Anflug von Belustigung lag auf O'Briens Gesicht. Sogar seine Brillengläser schienen ironisch zu glänzen. Er weiß, dachte Winston plötzlich, er weiß, was ich fragen will! Bei diesem Gedanken brachen die Worte aus ihm heraus:
»Was ist in Zimmer 101?«
O'Brien antwortete trocken:
»Sie wissen, was in Zimmer 101 ist, Winston. Jedermann weiß, was in Zimmer 101 ist.«
Er hob einen Finger zu dem Mann im weißen Mantel. Offenbar war das Verhör zu Ende. Eine Nadel drang in Winstons Arm. Fast augenblicklich sank er in tiefen Schlaf.
Drittes Kapitel
»Ihre Umschulung geht in drei Etappen vor sich«, sagte O'Brien. »Lernen, verstehen und bejahen. Es ist an der Zeit für Sie, in die zweite Etappe einzutreten.«
Wie immer lag Winston flach auf dem Rücken. Aber in letzter Zeit hatten sich seine Fesseln gelockert.
Sie hielten ihn zwar noch auf dem Streckbett nieder, aber er konnte seine Knie ein wenig bewegen, seinen Kopf
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