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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu regieren, und deshalb –«
    Er fuhr zusammen und schrie fast laut auf. Eine Schmerzenswelle hatte seinen Körper durchbrandet.
    O'Brien hatte den Hebel der Zahlenscheibe auf fünfunddreißig hochgedreht.
    »Das war dumm, Winston, sehr dumm!« sagte er. »Sie sollten es besser wissen und so etwas nicht sagen.«
    Er drehte den Hebel zurück und fuhr fort:
    »Jetzt werde ich Ihnen die Antwort auf meine Frage geben. Sie lautet: Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche. Nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Glück: nur Macht, reine Macht. Was reine Macht besagen will, werden Sie gleich verstehen. Wir sind darin von allen Oligarchien der Vergangenheit verschieden, daß wir wissen, was wir tun. Alle anderen, sogar die, welche uns ähnelten, waren feige und scheinheilig. Die deutschen Nazis und die russischen Kommunisten kamen in ihren Methoden sehr nahe an uns heran, aber sie besaßen nie den Mut, ihre eigenen Beweggründe zuzugeben.
    Sie taten so, ja glaubten vielleicht sogar, die Macht ohne ihr Wollen und auf beschränkte Zeit ergriffen zu haben, und gleich um die Ecke liege ein Paradies, in dem die Menschen frei und gleich sein würden. Wir sind nicht so. Wir wissen, daß nie jemand die Macht ergreift in der Absicht, sie wieder abzutreten. Die Macht ist kein Mittel, sie ist ein Endzweck. Eine Diktatur wird nicht eingesetzt, um eine Revolution zu sichern: sondern man macht eine Revolution, um eine Diktatur einzusetzen. Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht. Fangen Sie nun an, mich zu verstehen?«
    Winston fiel, wie schon vorher, die Müdigkeit von O'Briens Gesicht auf. Es war kräftig, fleischig und brutal, es war voll Klugheit und einer Art kontrollierter Leidenschaft, der gegenüber er sich hilflos fühlte; aber es war müde. Es hatte Säcke unter den Augen, die Haut hing schlaff von den Backenknochen herab.
    O'Brien beugte sich über ihn und brachte das abgekämpfte Gesicht absichtlich näher heran.
    »Sie denken«, sagte er, »daß mein Gesicht alt und müde ist. Sie denken, ich spräche von Macht und sei doch nicht imstande, meinen eigenen körperlichen Verfall aufzuhalten. Können Sie denn nicht begreifen, Winston, daß der einzelne Mensch nur eine Zelle ist? Die Schwäche der Zelle ist die Stärke des Organismus.
    Sterben Sie etwa, wenn Sie Ihre Fingernägel abschneiden?«
    Er wandte sich von dem Streckbett weg und begann wieder, eine Hand in der Tasche, hin und her zu gehen.
    »Wir sind die Priester der Macht«, sagte er. »Gott ist Macht. Aber noch bedeutet für Sie Macht nur ein Wort. Es ist für Sie an der Zeit, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Macht besagen will. Als erstes müssen Sie sich vor Augen halten, daß Macht Kollektivgeist ist. Der einzelne besitzt nur insoweit Macht, als er aufhört, ein einzelner zu sein. Sie kennen das Parteischlagwort: ›Freiheit ist Sklaverei.‹ Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, daß man es auch umkehren kann? Sklaverei ist Freiheit. Allein – frei – geht der Mensch immer zugrunde. Das muß so sein, denn jedem Menschen ist bestimmt, zu sterben, was der größte aller Mängel ist. Wenn ihm aber vollständige, letzte Unterwerfung gelingt, wenn er seinem Ich entrinnen, in der Partei aufgehen kann, so daß es die Partei ist , dann ist er allmächtig und unsterblich. Als zweites müssen Sie sich bewußt werden, daß Macht gleichbedeutend ist mit Macht über Menschen. Über den Leib – aber vor allem über den Geist. Macht über die Materie – die äußerliche Wirklichkeit, wie Sie sagen würden – ist nicht wichtig. Unsere Kontrolle über die Materie ist bereits eine vollkommene.«
    Einen Augenblick ließ Winston die Skala außer acht. Er machte eine heftige Anstrengung, sich zu sitzender Stellung aufzurichten, und brachte es lediglich fertig, seinen Körper schmerzvoll zu verdrehen.
    »Aber wie könnt ihr die Materie kontrollieren?« brach es aus ihm heraus. »Ihr kontrolliert noch nicht einmal das Klima oder die Schwerkraft. Und da sind Krankheit, Schmerz und Tod –«
    O'Brien gebot ihm durch eine Handbewegung Schweigen. »Wir kontrollieren die Materie, weil wir den Geist kontrollieren. Die Wirklichkeit spielt sich im Kopf ab. Sie werden Schritt um Schritt lernen, Winston.
    Es gibt nichts, was wir nicht

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