Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
Gefühl, daß es im Grunde nichts ausmachte, ob O'Brien ein Freund war oder ein Feind, hatte sich wieder eingestellt. O'Brien war ein Mensch, mit dem man reden konnte. Vielleicht will man nicht so sehr geliebt als verstanden sein. O'Brien hatte ihn fast bis zum Wahnsinn gefoltert, und nach einer kleinen Weile würde er ihn mit Bestimmtheit dem Tod überliefern. Das bedeutete nichts. In gewissem Sinne ging alles das tiefer als Freundschaft, sie waren Engvertraute: irgendwie gab es, obwohl das vielleicht nie mit Worten ausgesprochen wurde, eine Ebene, auf der sie sich begegnen und miteinander reden konnten. O'Brien blickte auf ihn hinunter mit einem Gesichtsausdruck, der nahe legte, er habe vielleicht den gleichen Gedanken im Sinn. Als er sprach, war es in einem leichten Unterhaltungston.
    »Wissen Sie, wo Sie sich befinden, Winston?« fragte er.
    »Nein, ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir denken. Im Ministerium der Liebe.«
    »Wissen Sie, wie lange Sie hier gewesen sind?«
    »Ich weiß es nicht. Tage, Wochen, Monate – ich glaube, es sind Monate.«
    »Und warum, glauben Sie, bringen wir die Menschen hierher?«
    »Um sie zu einem Geständnis zu zwingen.«
    »Nein, das ist nicht der Grund. Versuchen Sie's noch einmal.«
    »Um sie zu bestrafen.«
    »Nein!« rief O'Brien. Seine Stimme hatte sich plötzlich verändert, und sein Gesicht war plötzlich ernst und eifrig geworden. »Nein! Nicht nur, um Ihr Geständnis zu erpressen, sowenig um Sie zu bestrafen. Soll ich Ihnen sagen, warum wir Sie hierher gebracht haben? Um Sie zu heilen! Um Sie geistig gesund zu machen! Merken Sie sich, Winston, daß niemals ein Mensch, den wir hier an diesen Ort bringen, unsere Hände ungeheilt verläßt. Uns interessieren nicht diese dummen Verbrechen, die Sie begangen haben. Die Partei kümmert sich nicht um die offene Tat: nur der Gedanke ist uns wichtig. Wir vernichten nicht nur unsere Feinde, sondern machen andere Menschen aus ihnen. Verstehen Sie, was ich damit meine?«
    Er neigte sich über Winston. Sein Gesicht sah riesig aus durch die Nähe und so von unten gesehen furchtbar häßlich. Außerdem war es von einer Art Verzückung, einer verrückten Überspanntheit verzerrt.
    Wieder verließ Winston der Mut. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sich tiefer in das Streckbett verkrochen. Er war sicher, daß O'Brien im Begriff stand, aus reiner Lust an dem Hebel zu drehen. In diesem Augenblick jedoch wandte O'Brien sich weg. Er machte ein paar Schritte auf und ab. Dann fuhr er weniger heftig fort:
    »An erster Stelle gilt es für Sie zu verstehen, daß es hier kein Märtyrertum gibt. Sie haben von den Religionsverfolgungen in der Vergangenheit gelesen. Im Mittelalter gab es die Inquisition. Sie war ein Versager. Sie unternahm es, die Ketzerei auszutilgen, und endete damit, sie zu verewigen. Für jeden Ketzer, den man auf dem Scheiterhaufen verbrannte, standen Tausende andere auf. Warum das? Weil die Inquisition ihre Feinde in der Öffentlichkeit tötete und sie tötete, weil   sie noch unbußfertig waren: recht eigentlich sie deshalb tötete, weil sie unbußfertig waren. Die Menschen starben, weil sie ihren wahren Glauben nicht aufgeben wollten. Natürlich fiel der ganze Ruhm dem Opfer zu, und die ganze Schande kam auf den Inquisitor, der sie verbrannte. Später, im zwanzigsten Jahrhundert, kamen die sogenannten totalitären Regierungen. Da gab es die deutschen Nazis und die russischen Kommunisten. Die Russen verfolgten Ketzerei grausamer, als die Inquisition es getan hatte. Und sie glaubten, von den Fehlern der Vergangenheit gelernt zu haben; jedenfalls wußten sie, daß man keine Märtyrer machen durfte. Ehe sie ihre Opfer zu einer öffentlichen Verhandlung brachten, ließen sie es sich wohlbedacht angelegen sein, ihre Haltung zu brechen. Sie zermürbten sie durch Folter und Einzelhaft, bis sie verachtungswürdige, kriechende, armselige Würmer waren, die alles bekannten, was man ihnen in den Mund legte, sich mit Schande bedeckten, einander bezichtigten und um Gnade winselnd sich einer hinter dem anderen zu verschanzen versuchten. Und doch hatte sich nur nach ein paar Jahren das gleiche wiederholt. Die Getöteten waren Märtyrer geworden, und ihre Entwürdigung war vergessen. Und wieder frage ich Sie: Wie kam das? Erstens einmal, weil die von ihnen gemachten Geständnisse offensichtlich gewaltsam erpreßt und unecht waren.
    Wir begehen keine solchen Fehler. Alle Geständnisse, die hier abgelegt werden, sind echt. Wir machen

Weitere Kostenlose Bücher