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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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gegen die Wand zu rennen, den Tisch umzuwerfen und das Tintenfaß aus dem Fenster zu schleudern – irgend etwas Gewaltsames, Lautes oder Schmerzhaftes zu tun, um die quälende Erinnerung auszulöschen.
    Der schlimmste Feind, mit dem man es zu tun hatte, überlegte er, waren die eigenen Nerven. Jeden Augenblick konnte die innere Spannung sich in einem äußeren Symptom verraten. Ihm fiel ein Mann ein, an dem er vor ein paar Wochen auf der Straße vorbeigegangen war: ein ganz alltäglich aussehender Mann, ein Parteimitglied von fünfunddreißig oder vierzig Jahren, ziemlich groß und mager, eine Aktentasche unterm Arm. Sie waren ein paar Meter voneinander entfernt gewesen, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich in krampfhafte Zuckungen geriet. Das gleiche hatte sich noch einmal gerade in dem Augenblick wiederholt, als sie aneinander vorbeigekommen waren: es war nur ein kurzes Zittern, ein Zucken, so schnell wie das Klicken eines Fotoapparats, aber offenbar chronisch. Er erinnerte sich, daß er damals gedacht hatte: Der arme Teufel ist geliefert! Und das Erschreckende daran war, daß es sich höchstwahrscheinlich um einen unbewußten Vorgang handelte. Die allergrößte Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Soviel er wußte, gab es keine Möglichkeit, sich dagegen irgendwie zu schützen.
    Er schöpfte Atem und fuhr fort zu schreiben:
    Ich ging mit ihr durch den Torweg und über einen Hinterhof in eine im Erdgeschoß gelegene Küche. An der Wand stand ein Bett und auf dem Tisch eine sehr tief herabgeschraubte Lampe. Sie . . .
    Er war nervös. Er hätte am liebsten ausspucken mögen. Zugleich mit der Frau in der Küche dachte er an Katherine, seine Frau. Winston war verheiratet – oder jedenfalls verheiratet gewesen; vermutlich war er es noch, denn soviel ihm bekannt war, war seine Frau nicht gestorben. Ihm kam es vor, als atme er wieder den warmen, stickigen Geruch in der ebenerdigen Küche, einen Geruch aus Ungeziefer, schmutziger Wäsche und miserablem billigen Parfüm, aber dennoch verlockend, denn keine Frau von der Partei benützte jemals Parfüm, auch hätte man sich das überhaupt nicht vorstellen können. Nur die Proles benützten Parfüm. In seiner Vorstellung war dieser Geruch untrennbar mit Unzucht verbunden.
    Als er mit dieser Frau gegangen war, hatte das seinen ersten Fehltritt seit ungefähr zwei Jahren bedeutet.
    Der Umgang mit Prostituierten war natürlich verboten, aber es war eine der Vorschriften, die man gelegentlich zu übertreten wagen konnte. Es war gefährlich, aber es war keine Angelegenheit auf Leben und Tod. Mit einer Prostituierten erwischt zu werden, konnte bis zu fünf Jahren Zwangsarbeitslager bedeuten; aber nicht mehr, wenn man keinen weiteren Verstoß begangen hatte. Und das war recht einfach, wenn man nur vermeiden konnte, in flagranti ertappt zu werden. In den ärmeren Vierteln wimmelte es von Frauen, die bereit waren, sich zu verkaufen. Manche waren sogar für eine Flasche Gin zu haben, der nicht für die Proles bestimmt war. Stillschweigend neigte die Partei sogar dazu, die Prostitution zu fördern, als ein Ventil für Instinkte, die sich nicht völlig unterdrücken ließen. Die bloße Ausschweifung wurde nicht wichtig genommen, solange sie flüchtig und freudlos blieb und nur die Frauen der unterdrückten und verachteten Klasse daran teilnahmen. Ein unverzeihliches Verbrechen dagegen war die Unzucht zwischen Parteimitgliedern. Doch obwohl dies auch zu den Verbrechen gehörte, deren sich die Angeklagten in den großen Säuberungsprozessen unabänderlich schuldig bekannten, so konnte man sich doch nur schwer vorstellen, daß dergleichen wirklich vorkam.
    Das Ziel der Partei war nicht nur, das Zustandekommen enger Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu verhindern, die sie vielleicht nicht mehr übersehen konnte. Ihre wirkliche, unausgesprochene Absicht ging dahin, den sexuellen Akt aller Freude zu entkleiden. Nicht sosehr die Liebe als vielmehr die Erotik wurde als Feind betrachtet, sowohl in wie außerhalb der Ehe. Alle Eheschließungen zwischen Parteimitgliedern mußten von einer zu diesem Zweck aufgestellten Kommission genehmigt werden, und diese Genehmigung wurde – obwohl dieser Grundsatz nie deutlich festgelegt worden war – immer verweigert, wenn das fragliche Paar den Eindruck machte, körperlich zueinander hingezogen zu sein. Der einzig anerkannte Zweck einer Heirat war, Kinder zum Dienst für die Partei zur Welt zu bringen. Der Geschlechtsakt selbst hatte als

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