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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Häuser verfallen, das Brot dunkel, der Tee eine Rarität, der Kaffee schauderhaft, die Zigaretten zu wenig gewesen. Nichts war billig oder reichlich vorhanden gewesen außer dem synthetischen Gin. Und obwohl man das alles mit dem Älterwerden natürlich schlimmer empfand, war es nicht ein Zeichen, daß dies nicht die natürliche Ordnung der Dinge sein konnte, wenn einem stets das Herz weh tat bei der Unbehaglichkeit, dem Schmutz und dem Mangel, den endlosen Wintern, den verfilzten Socken, den nie funktionierenden Fahrstühlen, dem kalten Wasser, der sandigen Seife, den zerbröckelnden Zigaretten, den künstlichen Nahrungsmitteln mit ihrem verdächtigen Geschmack? Warum empfand man das als so unerträglich, wenn man nicht eine altererbte Erinnerung in sich trug, daß die Dinge einmal ganz anders gewesen waren? Er sah sich noch einmal in der Kantine um. Fast jeder einzelne war häßlich, und wäre auch häßlich gewesen, wenn er etwas anderes als den gleichförmigen blauen Trainingsanzug getragen hätte. Am anderen Ende des Raumes saß allein an einem Tisch ein kleiner, einem Käfer merkwürdig ähnlicher Mann und trank seine Tasse Kaffee, wobei seine Äuglein argwöhnische Blicke von einer Seite zur anderen warfen. Wie leicht, dachte Winston, konnte man glauben, wenn man nicht um sich blickte, daß es den von der Partei als Ideal proklamierten körperlichen Typus – großgewachsene, muskulöse junge Männer und vollbusige Mädchen, blond, lebensbejahend, sonnengebräunt und sorglos – wirklich gab und daß er sogar vorherrsche. In Wirklichkeit war die Mehrzahl der Menschen im Luftflottenstützpunkt Nr. 1, soweit er es beurteilen konnte, klein, brünett und häßlich. Es war merkwürdig, wie dieser käferartige Typ in den Ministerien Überhand nahm: kleine, untersetzte Menschen, die schon in jungen Jahren korpulent wurden, mit kurzen Beinen, raschen zappeligen Bewegungen und gedunsenen undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen.
    Dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen.
    Die Meldung des Ministeriums für Überfluß endete mit einem erneuten Fanfarenstoß und wurde durch Blechmusik abgelöst. Parsons, durch das Zahlenbombardement zu vager Begeisterung aufgerüttelt, nahm seine Pfeife aus dem Mund.
    »Das Ministerium für Überfluß hat dieses Jahr wahrhaftig Großes geleistet«, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. »Bei der Gelegenheit, Smith, alter Junge, Sie haben nicht zufällig ein paar Rasierklingen, die Sie mir ablassen könnten?«
    »Nicht eine«, sagte Winston. »Ich benütze selber seit sechs Wochen dieselbe Klinge.«
    »Ach so – ich dachte nur, ich wollte Sie mal fragen, alter Junge.«
    »Tut mir leid«, sagte Winston.
    Die quakende Stimme vom Nebentisch, die während der Meldung des Ministeriums vorübergehend zum Schweigen gebracht worden war, hatte wieder mit voller Lautstärke loszulegen begonnen. Aus irgendeinem Grunde mußte Winston plötzlich an Frau Parsons mit ihrem Wuschelhaar und dem Staub in ihren Kummerfalten denken. In zwei Jahren würden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Frau Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. Winston würde vaporisiert werden.
    O'Brien würde vaporisiert werden. Parsons dagegen würde nie vaporisiert werden. Das augenlose Wesen mit der quakenden Stimme würde nie vaporisiert werden. Die kleinen käferartigen Menschen, die so behend durch die labyrinthischen Gänge der Ministerien huschten – auch sie würden nie vaporisiert werden. Und das Mädchen mit dem dunklen Haar, das Mädchen aus der Literaturabteilung – auch sie würde niemals vaporisiert werden. Es schien ihm, als wisse er instinktiv, wer mit dem Leben davonkommen und wer vernichtet werden würde: wenn man auch nicht ohne weiteres sagen konnte, welcher Faktor eigentlich das Überleben entschied.
    In diesem Augenblick schrak er heftig aus seiner Träumerei auf. Das Mädchen am Nebentisch hatte sich halb umgedreht und ihn angeblickt. Es war das Mädchen mit dem dunklen Haar. Sie sah ihn mit einem verstohlenen Seitenblick, aber mit merkwürdiger Eindringlichkeit an. In dem Moment, in dem ihre Augen sich begegneten, wandte sie sich wieder ab.
    Winston brach der Schweiß aus allen Poren. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Zwar ließ er fast sofort nach, aber es blieb eine nagende Ungewißheit zurück. Warum beobachtete sie ihn? Warum verfolgte sie ihn dauernd? Unglücklicherweise konnte er sich nicht entsinnen, ob

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