Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
Kapitel 1
Die Wahrheit wird überschätzt. Vieles wird überschätzt: Oreos, die Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern an der State Street, klassische Rockmusik, das Heiraten. Alle wollen, dass man die Wahrheit für ein schönes, glänzendes Geschenk hält, das einen befreit. Sie lügen.
Die Wahrheit ist erschreckend und meist schmerzhaft, und vielleicht befreit sie einen, aber sie kann einen auch einsam machen. Es heißt, dass die Wahrheit wehtut – und das trifft zu, sie tut weh –, dass man sie aber überleben kann. Lügen dagegen sind tödlich, und ich belog mich selbst, indem ich mir einredete, dass ich mein altes Leben zurückbekommen, den Albtraum, der in meinem letzten Schuljahr begonnen hatte, nach und nach verdrängen und wieder das Mädchen sein könnte, das ich immer gewesen war. Die normale Mo Fitzgerald.
Wie ich schon sagte: Die Wahrheit wird vielleicht überschätzt, aber Lügen sind tödlich.
» Ich glaube dir nicht«, sagte Lena Santos und lehnte sich gegen die Reihe von Spinden, während ich in meinem nach einem Buch aus der Bibliothek wühlte. » Nein. Tut mir leid. Unmöglich.«
Ich schob lose Zettel, Haargummis und SAT -Vorbereitungs-Ratgeber beiseite, bis ich das staubige Buch fand und es in meine ohnehin schon überladene Tasche stopfte. » Ich hab’s. Ich werde wirklich nicht traurig sein, wenn ich dieses Referat endlich hinter mir habe.«
» Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Ich weigere mich zu glauben, dass du den Sadie-Hawkins-Ball auslässt.«
» Ich habe niemanden, mit dem ich hingehen kann.«
» Na und? Ich auch nicht, aber ich gehe trotzdem hin. Hast du überhaupt jemanden gefragt?«
Wir stapften die Treppe hinauf und hatten es nicht besonders eilig, in die Bibliothek zu kommen. In anderen Schulen gab es Loungesessel und zuvorkommende Angestellte. St. Brigid hatte Holzstühle und Schwester Agatha mit ihrer dicken schwarzen Brille und ihrer Angewohnheit, einen ständig zur Ruhe zu ermahnen. Unser Referat über die französische Monarchie im siebzehnten Jahrhundert war auch nicht unbedingt ein Anreiz, sich zu beeilen.
» Wen sollte ich denn schon fragen?« Ich zuckte die Achseln und rückte meine Büchertasche zurecht.
Lena tippte sich mit übertriebener Geste nachdenklich ans Kinn. » Ach, ich weiß nicht … Colin?«
» Glaub mir, Colin Donnelly ist keiner, der auf einen Highschool-Ball geht.«
» Das würde er aber tun, wenn du ihn fragen würdest. Seid ihr beiden nicht sozusagen … zusammen?«
» Wir denken noch darüber nach.« Ich starrte auf meine Schuhe, während wir um die Ecke bogen. Es gab viel Stoff zum Nachdenken, etwa die Frage, warum Colin auf die Bremse getreten hatte – und zwar sehr, sehr kräftig. Unsere Beziehung war wie die Hauptverkehrszeit. Man kam ein winziges Stück voran, und dann trat man schnell und heftig auf die besagte Bremse. Colin behauptete, seine Gründe dafür zu haben, aber ich verlor langsam die Geduld.
» Ganz abgesehen davon: Kannst du dir vorstellen, was meine Mutter … Aua!« Ich rannte jemanden um und landete auf dem Boden, während Bücher, Ordner und Stifte durch die Gegend flogen.
» Es tut mir leid«, sagte der Mann, gegen den ich geprallt war – ein älterer Herr, der in seinem schwarzen Wollmantel und seinem etwas altmodischen Nadelstreifenanzug wie ein wohlhabender Großvater wirkte. Er stützte sich schwer auf einen Gehstock mit Elfenbeingriff. » Ist dir auch nichts passiert?«
Seine Stimme hatte einen Hauch von einem Akzent, aber ich konnte ihn nicht recht einordnen. Seine Kopfbedeckung – eine schwarze Pelzmütze von der Art, wie man sie gewöhnlich im Winter sah – war in der Nähe zu Boden gefallen.
» Es war meine Schuld«, sagte ich und reichte ihm die Mütze, während ich mich aufrappelte.
» Nein, nein. Lass mich dir helfen.« Er bückte sich, hob meine Tasche auf und lächelte mich dann wohlwollend an. » Ein Gefallen verdient eine Gegenleistung, nicht wahr?«
Ihn umgerannt zu haben kam mir nicht gerade wie ein Gefallen vor, aber ich nahm die Tasche aus braun-olivfarbenem Stoff und erwiderte sein Lächeln. Seltsamerweise trug er nicht das Klebeschildchen, das das Büro für alle Besucher ausdruckte. Dabei achteten die Sicherheitsleute doch ziemlich gut darauf, dass die Leute sich anmeldeten …
Auch Lena musste aufgefallen sein, dass etwas nicht stimmte, denn sie fragte liebenswürdig: » Suchen Sie irgendjemanden? Sollen wir Ihnen den Weg zeigen?«
» Nein danke.« Er drückte sich die
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