Bis auf die Haut
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich erlaube mir, Ihnen dieses Manuskript zuzusenden, in der Hoffnung, es könnte Ihr Interesse wecken.
Die Autorin ist meine Tochter. Sie ist vor genau zwölf Monaten verschwunden. Ihr Wagen wurde in Südengland auf einer Steilklippe gefunden. Eine Leiche konnte allerdings nie geborgen werden, was für die Gegend ungewöhnlich ist. Trotz der Aussagen ihr nahe stehender Personen kam die Polizei zu dem Schluss, es läge ein Selbstmord vor, und stellte die Untersuchungen ein. Es gibt aber auch Spekulationen, meine Tochter hätte das Ganze womöglich inszeniert, um unterzutauchen. Keiner der beiden Erklärungsversuche überzeugt mich, und die Ungewissheit setzt mir schwer zu.
Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens beendete meine Tochter gerade ihre Arbeit an einem Buch. Soweit ich weiß, bin ich der einzige Mensch, dem sie davon erzählt hat. Es handelt vom geheimen Leben einer verheirateten Frau. Meine Tochter wollte anonym bleiben, um mit absoluter Ehrlichkeit schreiben zu können; sie fürchtete, sie würde sich nur selbst zensieren, wenn ihr Name mit dem Werk in Verbindung gebracht würde. Auch wollte sie alle Beteiligten und sich selbst schützen.
Der Text befand sich auf ihrem Laptop, den mir die Polizei aushändigte. Ich habe ihn direkt auf dem Monitor gelesen, weil ich hoffte, darin einen Anhaltspunkt für ihr Verschwinden zu finden. Beim Lesen hat sich mir das Leben meiner Tochter geöffnet wie eine Blüte. Was ich alles nicht wusste! Was ich alles nicht wissen wollte! In vielem war sie für mich eine Fremde – und dennoch der Mensch, der mir am nächsten stand.
Zuerst hätte ich die Datei am liebsten gelöscht, um alles ganz schnell wieder zu vergessen. Aber nun ist meine Tochter schon so lange fort, und obwohl ich immer noch bei jedem Klingeln des Telefons hoffe, dass sie es ist, wächst in mir das Gefühl, ich müsste alles in meinen Kräften Stehende tun, um einen Verleger für ihr Werk zu finden. Das hat sie sich so sehr gewünscht, das bin ich ihr schuldig. Denn letzten Endes wollte ich immer nur ihr Glück.
Hier also ist ihr Buch,
Bis auf die Haut
. Ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit dafür nehmen.
Für meinen Mann. Für alle Ehemänner.
I
Ich habe das Gefühl, irgendwo in dir gibt es jemanden,
von dem niemand etwas weiß.
Im Schatten des Zweifels,
Alfred Hitchcock und Thornton Wilder
1. Lektion Von äusserster Bedeuthung ist die Ehrlichkeit
Dein Mann weiß nicht, was du hier schreibst. Es ist so einfach, es direkt vor seinen Augen zu schreiben. Vielleicht genauso einfach, wie mit anderen Männern zu schlafen. Niemand wird jemals erfahren, wer du bist oder was du getan hast, denn du warst ja immer die brave Ehefrau.
2. Lektion Kaltes Wasser reget an die Nerven, kräftiget und stählet
Flitterwochen. Ein fremdes Land.
Da liegst du, beugst dich dem Ritual des Sex und erinnerst dich an den Tag, als du das Wasser entdeckt hast – sieben Jahre warst du alt. Du warst noch nie in einem Schwimmbad gewesen; dort, wo du aufgewachsen bist, gab es keines. Es war in den Sommerferien, du erinnerst dich an das Becken, wo dir das Wasser bei jedem deiner zaghaften Vorwärtsschritte weiter den Bauch hochkroch, an die Kälte, die langsam in deine Glieder schlich, an deinen Atem, der sich in deinem Magen ganz klein zusammenballte, und deine Mutter immer ein Stück weit vor dir, lächelnd streckte sie dir ihre Hände entgegen und redete dir gut zu und ging einen weiteren Schritt zurück und noch einen. Und plötzlich, plopp, schwebst du, und das Wasser stützt deinen Bauch und deine Beine wie ein Geflecht aus Sehnen und Muskeln, umfängt dich sanft und seidig, und die Erinnerung daran ist so überwältigend wie ein erster Kuss.
Dein erster Fick? Nun ja, du erinnerst dich an die Geräusche, als seine Finger sich zwischen deinen Schenkeln zu schaffen machten, bis du bereit warst, sonst an nicht viel. Nicht einmal an einen Namen.
3. Lektion Das Bett aufs Behaglichste zu bereiten ist ein höchst bedeuthsamer Theil der häuslichen Arbeit
In der Nachtluft Marrakeschs, dem Ziel eurer verspäteten Hochzeitsreise, klingt das erste frühmorgendliche Vogelgezwitscher wie das Zischen und Spritzen heißen Öls in der Küche. Es ist noch dunkel, doch die Vögel lösen die Frösche so unvermittelt ab, als hätte ihnen ein Dirigent mit dem Taktstock ein Zeichen gegeben. Der Gebetsruf hat dich geweckt und du kannst nicht wieder einschlafen, du willst die Flügel der Balkontür aufreißen, so
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