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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Bedeutung. Es war eine herausgerissene halbe Seite aus einer etwa zehn Jahre alten Times – die obere Hälfte des Blattes, so daß noch das Datum darauf war – und enthielt ein Bild der Delegierten bei irgendeiner Parteiveranstaltung in New York. Deutlich im Mittelpunkt der Gruppe hervorgehoben standen Jones, Aaronson und Rutherford. Sie waren leicht zu erkennen; außerdem standen ihre Namen darunter auf dem Begleittext.
    Der springende Punkt war nun, daß bei beiden Verhandlungen alle drei Männer gestanden hatten, sich zu diesem Zeitpunkt auf eurasischem Gebiet befunden zu haben. Sie seien von einem geheimen Flughafen in Kanada zu einem Zusammentreffen irgendwo in Sibirien geflogen, hätten mit Mitgliedern des eurasischen Generalstabs Beratungen gepflogen und ihnen wichtige militärische Geheimnisse verraten. Das Datum hatte sich Winstons Gedächtnis eingeprägt, weil es zufällig mit dem Sommeranfang zusammenfiel.
    Aber die ganze Sache mußte noch an zahllosen anderen Stellen aufgezeichnet sein. Es gab nur eine mögliche Schlußfolgerung: die Geständnisse waren Lügen.
    Natürlich war das an sich keine neue Entdeckung. Sogar damals hatte Winston keinen Augenblick geglaubt, daß die bei den Säuberungsaktionen Hingerichteten wirklich der Verbrechen schuldig seien, deren man sie bezichtigte. Hier aber handelte es sich um einen greifbaren Beweis; hier hielt er ein Fragment der ausgetilgten Vergangenheit in Händen, wie einen fossilen Knochen, der in der verkehrten Gesteinsschicht aufgetaucht war und eine geologische Theorie zunichte machte. Wenn das Dokument auf irgendeine Weise der Welt bekannt gemacht und seine Bedeutung erklärt werden konnte, genügte es, um die Partei in Atome zu zersprengen.
    Er hatte ruhig weitergearbeitet. Sobald er gesehen hatte, was das Bild darstellte und was es bedeutete, hatte er es mit einem anderen Blatt Papier zugedeckt. Glücklicherweise war der Zeitungsausschnitt beim Aufrollen mit der Rückseite dem Blickfeld des Televisors zugekehrt gewesen.
    Er legte seine Schreibunterlage auf die Knie und schob seinen Stuhl zurück, um möglichst weit von dem Televisor abzurücken.
    Ein ausdrucksloses Gesicht zu bewahren, war nicht schwer, und mit einer entsprechenden Willensanstrengung konnte man sogar seine Atemzüge beherrschen; nicht aber das Pochen des Herzens, und der Televisor war durchaus empfindlich genug, um es aufzufangen. Er ließ seiner Berechnung nach zehn Minuten verstreichen, die ganze Zeit gequält von der Angst, ein Zufall – ein plötzlich über seinen Schreibtisch wehender Zugwind zum Beispiel – könnte ihn verraten. Dann warf er das Bild, ohne es noch einmal aufzudecken, zugleich mit einigen anderen Papierabfällen, in das Gedächtnis-Loch . Eine Minute später war es wahrscheinlich schon zu Asche zerfallen.
    Das lag zehn, elf Jahre zurück. Heute hätte er das Bild vielleicht aufbewahrt. Es war seltsam, daß die Tatsache, es in Händen gehalten zu haben, für ihn sogar heute noch von Bedeutung war, obwohl doch das Bild selbst ebenso wie das darauf festgehaltene Ereignis so weit zurücklag. War die Macht der Partei über die Vergangenheit weniger groß, fragte er sich, weil ein Beweisstück, das nicht mehr existierte, wenigstens einmal existiert hatte? Heute jedoch wäre das Bild, selbst wenn man es wieder aus seinen Aschenresten rekonstruieren könnte, wohl kein Beweis mehr. Bereits damals, als er es entdeckte, befand sich Ozeanien nicht mehr im Kriegszustand mit Eurasien, und die drei toten Männer hätten folglich ihr Vaterland an Agenten von Ostasien verraten haben müssen. Seitdem waren andere Konstellationen eingetreten, zwei oder drei, er konnte sich nicht erinnern, wie viele. Sehr wahrscheinlich waren die Geständnisse wieder und wieder umgeschrieben worden, bis die ursprünglichen Tatsachen und Daten nicht mehr die geringste Bedeutung hatten. Nicht genug, daß die Vergangenheit sich veränderte, ihre Veränderung war fortlaufend und unaufhörlich. Mit dem Gefühl eines Alptraums bedrückte ihn am meisten, daß er nie ganz begriffen hatte, warum der ganze riesige Schwindel überhaupt vollzogen wurde. Die unmittelbaren Vorteile einer Fälschung der Vergangenheit waren offensichtlich, aber das letzte, ureigentliche Motiv war schleierhaft. Er griff wieder zu seinem Federhalter und schrieb:
    Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum.
    Er fragte sich wie schon oft, ob er wahnsinnig geworden war. Vielleicht war ein Wahnsinniger nichts weiter als eine Minderheit, die

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