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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Rauschgift- und Schwarzhändlern. Aber da sich das alles nur unter den Proles abspielte, war es ohne Bedeutung. In allen ethischen Fragen ließ man sie ihrer alten Tradition folgen. Der sexuelle Puritanismus der Partei wurde ihnen nicht aufgezwungen. Außerehelicher Geschlechtsverkehr blieb unbestraft, Scheidungen waren erlaubt. Selbst die Ausübung einer Religion wäre gestattet worden, wenn die Proles irgendwie das Bedürfnis oder den Wunsch danach zum Ausdruck gebracht hätten. Sie waren über jeden Verdacht erhaben. Wie ein Schlagwort der Partei es ausdrückt: »Proles und Tiere sind frei.«
    Winston beugte sich vor und kratzte vorsichtig seine Krampfaderknoten, die wieder zu jucken angefangen hatten. Der Punkt, auf den man unausweichlich immer wieder zurückgeführt wurde, war die Unmöglichkeit, sich ein Bild von dem Leben vor der Revolution zu machen. Er zog aus der Schublade ein Geschichtsbuch für Schulkinder hervor, das er von Frau Parsons entliehen hatte, und begann ein Stück daraus in sein Tagebuch abzuschreiben:
    In den alten Zeiten vor der glorreichen Revolution war London nicht die herrliche Stadt, als die wir es heute kennen. Es war ein düsterer, schmutziger, armseliger Ort, wo kaum jemand genug zu essen und Tausende von armen Menschen keine Schuhe an ihren Füßen und nicht einmal ein Dach überm Kopf hatten, unter dem sie schlafen konnten. Kinder in Euerm Alter mußten zwölf Stunden am Tag für grausame Arbeitgeber schuften, die sie mit Peitschen schlugen, wenn sie zu langsam arbeiteten, und ihnen nur trockenes Brot und Wasser zu essen gaben. Aber inmitten dieser schrecklichen Armut gab es ein paar große, schöne Häuser, die von den Reichen bewohnt wurden, die bis zu dreißig Dienstboten zu ihrer Bedienung hatten. Diese Reichen nannte man Kapitalisten. Sie waren dicke, häßliche Menschen mit bösen Gesichtern, wie der auf der nächsten Seite Abgebildete. Er trägt, wie Ihr seht, einen langen schwarzen Rock, der Gehrock genannt wurde, und einen komischen, glänzenden Hut von der Form eines Ofenrohrs, der Zylinder hieß. Das war die Kleidung der Kapitalisten, und niemand sonst durfte sie tragen. Den Kapitalisten gehörte alles, was es auf der Welt gab, und alle anderen Menschen waren ihre Sklaven. Sie besaßen das ganze Land, alle Häuser, alle Fabriken und alles Geld. Wenn jemand ihnen nicht gehorchte, ließen sie ihn ins Gefängnis werfen oder nahmen ihm die Arbeit weg, damit er verhungerte. Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit einem Kapitalisten sprach, mußte er sich ducken und vor ihm katzbuckeln, seine Mütze abnehmen und ihn mit »Gnädiger Herr« anreden. Der Häuptling der Kapitalisten wurde König genannt und . . .
    Aber er kannte diese alte Leier schon. Es würde sich die Beschreibung der Bischöfe mit ihren Batistärmeln anschließen, der Richter in ihren Hermelinroben, des Prangers, des Blocks, der Tretmühle, der neunschwänzigen Katze, des Banketts des Londoner Oberbürgermeisters und des Brauchs, dem Papst den Schuh zu küssen. Auch hatte es so etwas wie das sogenannte jus primae noctis   gegeben, was vermutlich nicht in einem Kinderlehrbuch stehen würde. Das war ein Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jedem in seinen Fabriken beschäftigten Mädchen zu schlafen.
    Er konnte nicht sagen, wie viel von all dem Lüge war. Es mochte wahr sein, daß es dem Durchschnittsmenschen heute besser ging als vor der Revolution. Der einzige Gegenbeweis war der stumme Protest im eigenen Innern, das instinktive Gefühl, daß die Bedingungen, unter denen man lebte, unerträglich waren und früher anders gewesen sein mußten. Es fiel ihm auf, daß das wirklich Charakteristische des heutigen Lebens nicht seine Grausamkeit und Unsicherheit, sondern einfach seine Nacktheit, seine Schäbigkeit, seine Ruhelosigkeit war. Das Leben hatte, wenn man um sich blickte, nicht nur keinerlei Ähnlichkeit mit den Lügen, die aus dem Televisor strömten, sondern entsprach nicht einmal den Idealen, wie sie die Partei aufstellte. Ein großer Teil des Lebens spielte sich, selbst für ein Parteimitglied, auf einer neutralen und unpolitischen Ebene ab und bestand darin, sich mit langweiliger Arbeit abzuplagen, sich einen Platz in der Untergrundbahn zu erobern, eine zerrissene Socke zu stopfen, eine Sacharintablette zu erbetteln, einen Zigarettenstummel aufzubewahren. Das von der Partei angestrebte Ideal war etwas Großes, Schreckliches, Gleißendes – eine Welt aus Stahl und Beton, eine Welt von

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