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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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solchen Warnungen. Sie schienen eine Art Instinkt zu besitzen, der sie ein paar Sekunden im voraus warnte, daß eine Rakete herannahte, obwohl die Raketengeschosse angeblich schneller waren als der Schall. Winston legte die Arme über den Kopf. Ein Krach ertönte, so daß die Straßendecke zu bersten schien, und ein Hagelschauer von leichten Gegenständen prasselte auf Winstons Rücken herab. Als er aufstand, entdeckte er, daß er mit Glassplittern übersät war, die von dem nächstgelegenen Fenster stammten.
    Er ging weiter. Die Bombe hatte, zweihundert Meter weiter die Straße hinunter, eine Häusergruppe zerstört. Eine schwarze Rauchfahne hing am Himmel, darunter eine Wolke von Mörtelstaub, in der sich bereits, rings um die Trümmer, eine Menschenmenge sammelte. Vor ihm auf dem Pflaster lag ein kleiner Mörtelhaufen, in dessen Mitte er ein hellrotes Rinnsal unterscheiden konnte. Als er näher kam, erkannte er, daß es eine am Handgelenk abgetrennte Menschenhand war. Abgesehen von dem blutigen Stumpf war die Hand so völlig ausgeblutet, daß sie einem weißen Gipsabguß glich.
    Er schleuderte das Ding mit dem Fuß in den Rinnstein und bog dann nach rechts in eine Seitenstraße ab, um aus der Menge herauszukommen. In drei oder vier Minuten hatte er die Gegend mit dem Bombenschaden hinter sich gelassen, und das trübseligschmutzige Gewirr belebter Straßen zog sich weiter, als habe sich nichts Besonderes ereignet. Es war fast zwanzig Uhr, und die von den Proles besuchten Kneipen waren gedrängt voll. Aus ihren abgegriffenen, unablässig auf- und zuschlagenden Klapptüren drang ein Geruch nach Urin, Sägemehl und säuerlichem Bier. In einem Winkel hinter einer vorspringenden Hausfront standen drei Männer dicht beieinander; der mittlere hielt eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand, die beiden anderen blickten ihm über die Schultern. Noch bevor er nahe genug herangekommen war, um den Ausdruck ihrer Gesichter zu unterscheiden, erkannte Winston schon an der Körperhaltung ihre Spannung. Offenbar lasen sie eine ungemein wichtige Nachricht. Er war noch ein paar Schritte von ihnen entfernt, als die Gruppe plötzlich auseinander fiel, während zwei der Männer in heftigen Wortwechsel gerieten. Einen Augenblick lang wollte es so aussehen, als sollte es zu einer Schlägerei kommen.
    »Kannst du denn deine Ohren nicht aufmachen, wenn ich dir was sage? Ich sag' dir doch, keine Zahl auf sieben hat jemals gewonnen, seit über vierzehn Monaten.«
    »Aber sicher hat sie gewonnen!«
    »Nein, keine Spur. Zu Hause hab' ich den ganzen Kram seit über zwei Jahren mitgeschrieben. Ich trag' die Ergebnisse immer haargenau ein. Und ich sag' dir, keine Zahl mit sieben am Schluß . . .«
    »Und doch hat eine mit sieben gewonnen! Ich kann dir ziemlich genau die Nummer sagen, die letzten Stellen waren vier, null, sieben. Das war im Februar – zweite Februarwoche.«
    »Laß dich einpökeln mit deinem Februar! Ich hab' es alles schwarz auf weiß. Und ich sag' dir, keine Zahl . . .«
    »Ach, halt's Maul!« sagte der dritte.
    Sie sprachen über die Lotterie. Als er dreißig Meter weitergegangen war, schaute Winston noch einmal zurück. Sie stritten mit roten, aufgeregten Gesichtern noch immer. Die Lotterie mit ihren wöchentlichen Auszahlungen riesiger Gewinne war das einzige öffentliche Ereignis, dem die Proles ernstliche Aufmerksamkeit schenkten. Man durfte annehmen, daß im Leben von etlichen Millionen Proles die Lotterie den hauptsächlichen, wenn nicht den einzigen Inhalt bildete. Sie war ihre Lust, ihr Steckenpferd, ihr Trost, ihr geistiger Ansporn. Sobald es sich um die Lotterie handelte, schienen sogar Leute, die kaum lesen und schreiben konnten, zu verzwickten Berechnungen und erstaunlichen Gedächtnisleistungen fähig. Eine ganze Kategorie von Menschen verdiente ihren Lebensunterhalt lediglich durch den Verkauf von Systemen, Vorhersagen und Glücksfetischen. Winston hatte selbst nichts mit der Abwicklung der Lotterie zu tun, die dem Ministerium für Überfluß unterstand, aber er wußte sehr wohl (in der Partei wußte es jedermann), daß die Gewinne größtenteils nur auf dem Papier standen. Nur kleine Beträge wurden wirklich ausbezahlt, während die Gewinner der Haupttreffer frei erfundene Personen waren. Da es zwischen den einzelnen Teilen Ozeaniens keine funktionierenden Verbindungsmöglichkeiten gab, war das unschwer einzurichten.
    Und doch, wenn es eine Hoffnung gab, so lag sie bei den Proles. Daran mußte man festhalten. In

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